Rezension aus:
Historische Zeitschrift 281 (2005),
S. 516-519
Burkhard Dietz/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau
(Hrsg.), Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der
völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum
(1919-1960). (Schriften zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, hrsg.
v. Horst Lademacher, Bd. 6) Münster/New York/München/Berlin, Waxmann 2003.
XXX, 1296 S., € 74,-.
Das voluminöse Sammelwerk besteht aus 44 Aufsätzen,
einem Anhang mit englischen und französischen Resümees und einem
ausführlichen Register. Es konzentriert sich auf den „Nordwesten“, also
auf das „niederländische, belgische und luxemburgische Segment der
‚Westforschung’“ mitsamt dem Streitobjekt Eupen-Malmedy, während der
„Südwesten“, also Frankreich und die Schweiz mitsamt den Streitobjekten
Saarland und Elsaß-Lothringen, einer bereits geplanten Folgepublikation
vorbehalten bleibt.
Der griffige Titel – eine Anspielung auf Fritz
Fischers ,Griff nach der Weltmacht’ – läßt zunächst vermuten, hier solle
nach der kürzlich erfolgten „Enttarnung“ deutscher „Ostforscher“ nun mit
derselben Rigorosität auch an der Westgrenze das deutsche Schuldkonto
durchgerechnet, die „Westforschung“ also von vornherein und ausschließlich
unter das Leitmotiv von Aggression und Annexion gestellt werden. Die
Mehrzahl der Beiträger urteilt dann aber doch wohltuend sachlich und
ausgewogen, und Peter Schöttlers These, die „Westforschung“ der NS-Zeit
habe sich fortgesetzt in der „Westbindung“ der Adenauer-Zeit, findet hier
nur wenige Anhänger (vgl. S. 402, 408 f., 1153).
Gleichwohl ist von Kontinuität häufig die Rede –
verständlicherweise, denn allein schon die Biographien der Protagonisten
zeugen von deren dauerhafter Wirkung über mehrere politische Systeme
hinweg: Franz Steinbach leitete das 1920 gegründete Bonner ,Institut für
geschichtliche Landeskunde der Rheinlande’ von 1926 bis 1960, und dessen
Nachfolger Franz Petri – seit der Habilitationsschrift über ‚Germanisches
Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich’ 1937 die zweite vielzitierte
Schlüsselfigur der „Westforschung“ – konnte noch bis 1977 in den von ihm
edierten Sammelbänden der , Wissenschaftlichen Buchgesellschaft’ seine
alte These von der fränkischen Landnahme bis hinunter zur Loire und der
heutigen germanisch-romanischen Sprachgrenze als einer „Rückzugslinie“
öffentlichkeitswirksam verkünden (S. 927 ff., vgl. S. 362).
Mit Recht wird betont, daß die „Westforschung“ und
das Bonner Institut in den 1920er Jahren unter dem Eindruck der
Gebietsverluste auf Grund des „Versailler Diktats“ standen, daher zunächst
zwar revisionistisch, darüber hinaus aber nicht expansiv eingestellt
waren. Überhaupt war die „Kulturraumforschung“ des Bonner Instituts in
ihren Anfängen nicht eigentlich „völkisch“ orientiert, denn sie empfing
ihre wesentliche Anregung von der sprachgeographischen Methode des
‚Deutschen Sprachatlas’ in Marburg und war darin innovativ, daß sie den
„Kulturraum“ gerade nicht auf Grund ethnischer Kriterien
definierte, also nicht auf alte Stammesgrenzen zurückführte,
sondern auf „ein Bündel von naturhaften, wirtschaftlichen, sozialen,
kulturellen und politischen Faktoren“ (S. 939). B.-A. Rusinek meint
sogar, daß die Bonner Kulturraumforscher nur „bei der Kiellegung ihres
landeshistorischen Ansatzes [...] kreativ“ gewesen seien und dann „wie
festgenagelt“ auf ihrem „1920er-Jahre-Standpunkt“ sitzengeblieben seien
(S. 1189 f.); daher handle es sich, wenn nach 1945 Kontinuitäten sichtbar
werden, um Anknüpfungen an die Weimarer Zeit, „nicht jedoch um nazistische
Kontinuität“ (S. 1193).
Unzweifelhaft aber geriet die Kulturraumforschung in
den späten 1930er Jahren und zumal während der deutschen Besetzung der
Weststaaten mehr und mehr in den Sog der Expansionspolitik des NS-Regimes.
Gleichzeitig mit dem vorliegenden Werk (und daher hier nicht
berücksichtigt) erschien Schöttlers Edition des von ihm so genannten
„Generalplans West“, eines (unter dubiosen Umständen 1945 aufgetauchten)
Entwurfs, der während der 1940er Jahre im Berliner Innenministerium
ausgearbeitet sein soll und weitreichende Annexionen ins Auge faßte (in:
Sozial.Geschichte 18, 2003, 83 ff.). Sicherlich lieferte die
„Westforschung“ hierzu die Argumente, aber es scheint mir nicht statthaft
zu sein, von solchen und ähnlichen Annexionsplänen aus der Besetzungszeit
umstandlos zurückzuschließen auf die Vorstellungen des Bonner Instituts
während der 1920er und frühen 1930er Jahre und dabei dann Ost- und
Westforschung in ihren Intentionen gleichzusetzen (vgl. S. 736 f.).
Immerhin konnte Steinbach noch 1940 erklären, die
künftigen Verhältnisse an der Westgrenze müßten friedlich und ohne
Annexionen gestaltet werden, da „die großen Aufgaben der Reichspolitik
[...] im Osten liegen“ (vgl. S. 1149, 1175). Daß die
„Westforschung“ auf völlig anderen Voraussetzungen beruht als die
„Ostforschung“, wird in mehreren Beiträgen angedeutet: im Osten der breite
Gürtel eines ethnischen Mischgebietes und ein kulturmissionarischer
Anspruch, im Westen jenseits der – jahrhundertelang stabilen – Grenze ein
ausgeprägt „westliches“ Kulturbewußtsein: Johan Huizinga bekannte sich
1934 unter dem Eindruck der Ereignisse in Deutschland ausdrücklich zur
westelijkheid der Niederlande (S. X).
Die Hrsg. erklären zwar, sie hätten keine
„handbuchartige inhaltliche Totalität angestrebt“ (S. XXIX), aber es fällt
angesichts der Überfülle des Materials schwer, Lücken zu finden.
Allerdings ist einerseits in manchen Beiträgen der Blick allzu sehr auf
Details beschränkt, und es hätte andererseits der thematische Rahmen hier
und da etwas weiter gefaßt werden können: Julius Langbehn, der
„Rembrandtdeutsche“, dann der Niederländer Herman Wirth und sein Mäzen,
der Bremer Kaffeefabrikant Ludwig Roselius, hätten mit ihren
„nordwesteuropäischen“ Kulturkonzepten einbezogen werden können. Und hätte
man die Frühgeschichte des Bonner Instituts stärker ins Blickfeld gerückt,
wären neben Franz Petri, dem Lehrer Horst Lademachers, wohl auch Hermann
Aubin und Theodor Frings mit eigenen Artikeln bedacht worden. Der
Germanist vermißt vor allem einen Artikel über (den in Metz geborenen) Leo
Weisgerber und dessen ebenso bekannte wie umstrittene These, das Wort
,deutsch’ sei an der westlichen Volkstumsgrenze als „Heimatruf der in dem
Schicksal der Romanisierung stehenden Franken“ entstanden (die kurzen
Bemerkungen über W. Boehlichs Weisgerber-Kritik S. 1190 sind
unzureichend). Schließlich wäre es für eine objektive Beurteilung der
deutschen „Westforschung“ nützlich gewesen, den Aktivitäten der Gegenseite
größere Aufmerksamkeit zu widmen: Im Beitrag über Eupen-Malmedy wird dem
„belgischen Patriotismus“ immerhin „die Vorstellung imperialistischer
Großmachtpolitik“ unterstellt (S. 497).
Manchen Leser mögen gelegentlich einige allzu flotte
und törichte Pauschalurteile stören (so über die „kollektive
Vertuschungsorgie“ in der Bundesrepublik, S. 733, oder über die
Adenauer-Zeit, in der „die belasteten Intellektuellen ebenso wenig
verschwanden wie das Gros der Volksgenossen insgesamt“ [wohin um Himmels
willen hätten sie „verschwinden“ sollen?], eine Zeit also, die nur
„formal“ eine Demokratie, in Wahrheit aber vom postnazistischen Bewußtsein
geprägt gewesen sei, S. 1135 f.). Ansonsten dominiert durchaus der
Eindruck besonnener und solider Sachlichkeit, und so wird man der
Folgepublikation über den „Südwesten“ mit Gelassenheit entgegensehen
dürfen.
Frankfurt am Main, Klaus von See
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