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         Rezension in: Der Archivar 57 (2004), Heft 1, S. 79-80
      Um die Westforschung hat sich vor allem innerhalb 
      der Geschichtswissenschaft eine breite und kontroverse Diskussion 
      entwickelt. In ihrem Zentrum steht die Frage, wie die seit etwa 1920 sich 
      herausbildende kulturgeschichtliche Erforschung des nordwesteuropäischen 
      Raumes wissenschaftshistorisch zu bewerten ist. Handelt es sich um einen 
      frühen produktiven Ansatz interdisziplinären und internationalen 
      Arbeitens, oder handelt es sich lediglich um eine rückwärtsgewandte, 
      völkisch inspirierte Dienstbarmachung der Wissenschaft mit dem mehr oder 
      minder offen formulierten Ziel der Revision bestehender politischer 
      Grenzen? Der vorliegende Sammelband hat, kaum erschienen, die Diskussion 
      neu angestachelt und offenbar die bestehenden Fronten weiter verhärtet, 
      und das obwohl die Herausgeber selbst sich einer thesenhaften Zuspitzung 
      von Forschungspositionen ausdrücklich enthalten haben. 
      Entlang thematischer Achsen, die einen 
      polyperspektivischen Blick auf das Gesamtsystem der Geisteswissenschaften 
      eröffnen, skizzieren die Autoren, zum Teil basierend auf bereits 
      veröffentlichten, zum Teil auf neuen Forschungsergebnissen, ein überaus 
      komplexes und detailreiches Bild von den Gegenständen, Methoden, 
      Organisationen und zentralen Persönlichkeiten der Westforschung in der 
      ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei liegen Schwerpunkt und 
      Zielrichtung der Darstellung – anders als der Titel suggeriert – noch 
      immer sehr deutlich auf der Zeit zwischen 1933 und 1945. Auf der Grundlage 
      umfassender Quellenstudien und mit einer Offenheit, die nichts kaschiert, 
      schildern die Beiträge, wie nicht wenige der Kulturraumforscher während 
      des Dritten Reichs in einer individuell jeweils unterschiedlich gelagerten 
      Mischung aus ideologischer Überzeugung und karrieristischen Ambitionen die 
      Westforschung auf die politischen Vorgaben des Nationalsozialismus 
      eingestellt haben. Das gilt für die Wegbereiter und Wortführer der 
      Kulturraumforschung, darunter voran Hermann Aubin, Theodor Frings, Franz 
      Steinbach und immer wieder Franz Petri. Das gilt aber nicht zuletzt auch 
      für die vielen wissenschaftlich Ausgebildeten, die später außerhalb der 
      Wissenschaft eine berufliche Laufbahn in der Kulturverwaltung oder in den 
      Einrichtungen der Wissenschaftsförderung einschlugen und in dieser 
      Funktion nach 1933 weniger an der Programmatik als vielmehr an der 
      politischen Umformulierung und Umsetzung der Kulturraumforschung 
      arbeiteten. Der Fall des Hans Schneider (später Schneider), der nach 
      seinem Studium 1937 zur SS ging, ist nur das bekannteste Beispiel; ihm 
      stehen – wie der Band belegt – andere, weniger spektakuläre Fälle (wie zum 
      Beispiel der des Aachener Grenzraumforschers Georg Scherdin) zur Seite. 
      Der starke thematische Fokus, mit dem die Autoren 
      des Sammelbandes den zum Teil engen Verflechtungen zwischen Wissenschaft 
      und Politik nachgehen, fördert die kritische Aufarbeitung der 
      Fachgeschichte der Geschichts- und Geisteswissenschaften; daneben birgt er 
      aber auch die Gefahr einer politik- und ideologiegeschichtlichen 
      Engführung der Darstellung, die gelegentlich materialreich Fallbeispiele 
      zusammenträgt, ohne dadurch immer auch gleich zu neuen Erkenntnissen zu 
      gelangen. Interessant sind deshalb vor allem diejenigen Beiträge, die (wie 
      der von Marnix Beyen) neben den Handlungsfeldern der Politik den inneren 
      Diskurs des Wissenschaftssystems nicht aus dem Blick verlieren. Nur in der 
      Doppelperspektive wird der Unterschied und das Spannungsverhältnis 
      erkennbar zwischen dem Begründungskontext wissenschaftlichen Wissens 
      einerseits und seinem Entstehungs- und Verwertungskontext andererseits. 
      Auseinandersetzungen wie die zwischen Franz Petri und Maurice Wilmotte 
      oder in nationalem Rahmen zwischen Petri und Romanisten Gamillscheg 
      zeigen, daß Westforscher, die sich in ihren Arbeiten allzu stark der 
      Politik öffneten, im Diskurs der ‚scientific community‘ auch noch während 
      des Dritten Reichs durchaus auf Vorbehalte und Ablehnung stoßen konnten, 
      wenn sie, die Komplexität der empirischen Befunde ignorierend, einseitig 
      allein die kulturelle Beeinflussung politischer Grenzgebiete durch 
      Deutschland propagierten oder diese Propaganda gar im Rückgriff auf 
      ethnisches, biologisches oder rassistisches Denken naturalistisch zu 
      untermauern versuchten und damit das Paradigma der Kulturraumforschung 
      insgesamt sprengten. Am Tenor der Kritik, die sich gegen die Auswüchse 
      einer „allzu lebhaften Phantasie“ (Gamillscheg) zur Wehr setzte, werden 
      die wissenschaftsinternen, konzeptionellen Grenzen einer politischen 
      Instrumentalisierbarkeit der Kulturraumforschung sichtbar, die letztlich 
      in der Labilität ihrer Konstruktionen begründet lag: Die Kartierung von 
      Kulturräumen ähnelte sogenannten Kippbildern, die je nach Perspektive, je 
      nach Auswahl des Kulturbereichs und der Epoche, immer wieder 
      unterschiedliche Linienverläufe und Muster erkennen ließen. Nicht 
      zwangsläufig mußte sich aus der Pluralität der Befunde das Bild einer weit 
      ausgedehnten völkischen Kultureinheit ergeben. Das Politische war dem 
      Konzept der Kulturraumforschung nicht eingeschrieben, auch wenn es seine 
      Entstehung und Verbreitung begünstigte. Deshalb ließ sich das Konzept nach 
      1945 unter weltanschaulich veränderten Bedingungen auch relativ leicht 
      anpassen und weiter verwenden. Der vorliegende Sammelband schneidet diese 
      Frage nach den Kontinuitäten der Westforschung bedauerlicherweise nur 
      recht kurz an. Weitere Untersuchungen wären dringend wünschenswert, wobei 
      thematisch spezialisierte Einzelstudien wie die von Peter Heil zur 
      Raumforschung zum gegenwärtigen Zeitpunkt allemal instruktiver erscheinen 
      als bemühte Versuche großangelegter Synthesen, die mit ihrer vorschnellen 
      Konstruktion lang reichender Traditionslinien und -zusammenhänge leicht 
      Gefahr laufen, alte Fehler der Kulturraumforschung zu wiederholen. 
      Wer sich für die Geschichte der Westforschung oder 
      auch allgemein für die Geschichte der Geschichtswissenschaft in der ersten 
      Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert, wird bis auf weiteres am 
      vorliegenden Sammelband nicht vorbeikommen. Hervorragend ausgestattet und 
      durch Indizes bestens erschlossen, enthält er eine Fülle an Informationen 
      und darüber hinaus vielfältige Anregungen zum Weiterforschen. 
      Andreas 
      Pilger, Düsseldorf 
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