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Rezension aus: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 67 (2004), H. 2, S. 523-526

Zum Aufgabenfeld der Historiker gehört es auch, die Geschichte des eigenen Faches aufzuarbeiten. Besondere Bedeutung hat hierbei das Thema der Geschichtswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Bislang stand im Mittelpunkt der Diskussion vor allem die „Ostforschung“, also die Beteiligung der Historiker bei der „wissenschaftlichen“ Konzipierung und Fundierung der Politik im deutsch besetzten Osteuropa unter aggressivem, völkisch-rassistischem Vorzeichen. Die seit den 1990iger Jahren laufende Debatte war von vornherein schmerzhaft, da es nie einfach nur um die Frage der Nähe zum nationalsozialistischen Regime oder der Verstrickung mit ihm ging, sondern immer auch um die Frage der Kontinuität über 1945 hinaus. In kritischem Licht erschienen auf diese Weise auch prominente Vertreter der historischen Zunft, die nach dem Untergang des Nazi-Regimes nochmals oder weiter Karriere machten und für die Geschichtswissenschaft im Nachkriegsdeutschland unbestritten wichtige Impulsgeber gewesen sind. Mit dem Stichwort „Westforschung“ erscheint das vorzustellende Werk zunächst als Pendant zur „Ostforschung“. Ungeachtet einiger Parallelen und personeller Verflechtungen zwischen „West“- und „Ostforschung“ sind deutliche Unterschiede auszumachen; so entbehrte die grundsätzliche Attitüde gegenüber den westlichen Nachbarn einer derart intensiven Menschenverachtung, wie sie für den nationalsozialistischen Blick nach Osten kennzeichnend war – was freilich die Tätigkeit mancher „Westforscher“ als Handlanger des Besatzungsregimes im Westen nicht weniger schlimm erscheinen läßt.

Neben der Einleitung der Herausgeber umfaßt das Werk 42 Artikel, die sich auf vier Sektionen verteilen. Eine solche Masse von Forschungsergebnissen läßt eigentlich schnell zum Prädikat „erschöpfend“ greifen. Doch die Herausgeber selbst lehnen eine solche Klassifizierung ab. Sie verweisen ihrerseits auf den punktuellen Charakter vieler Studien, die in der Summe keineswegs sämtliche Aspekte berühren können (XXIX). Dies ist insofern kein Bescheidenheitstopos, als der Berichtsraum auf den nördlichen Raum der „Westforschung“ beschränkt ist. Schon jetzt kündigen sie an, daß nach diesem Werk mit einem hier „nordwesteuropäisch“ genannten Schwerpunkt (d.h. Niederlande, Belgien, Luxemburg) ein Folgeprojekt den Südwesten (Schweiz, Lothringen, Saar) thematisieren soll (XI).

Die Autoren – zumeist deutsche, aber auch einige niederländische und belgische Vertreter – entstammen zum größten Teil der jüngeren Generation. Doch neben dieser ‚Enkelgeneration‘ stehen auch einige Fachkollegen, die in deutlicher Nähe zu den hier debattierten Forschern und Instituten stehen und sozusagen die Söhne- und Töchtergeneration der „Westforscher“ repräsentieren. Mit Marta Baerlecken ist sogar eine Zeitzeugin vertreten, die in einem Selbstzeugnis die Situation der Niederlandistik in Köln in den 1930er und 1940er Jahren aus bewußt subjektiver Perspektive schildert (851-885). Dieses Mixtum verschiedener Forschergenerationen ist zweifelsohne ein Versuch, dieses Forschungsvorhaben nicht in schroffer Frontstellung zu den Institutionen zu positionieren, deren Entstehungs- und Frühgeschichte hier kritisch durchleuchtet werden soll. Auch dies sicher eine Lehre aus den heftigen, emotionalisierten Zusammenstößen, die die Debatte um die „Ostforschung“ begleitet haben.

Mit dem Berichtszeitraum von 1919 bis 1960 scheint besonders mit Blick auf das erste Datum ein organisationengeschichtlicher Zugriff vorzuliegen, als sich nach dem Ersten Weltkrieg einige Forschungsinitiativen institutionell verfestigten – mit dem Institut für geschichtliche Landeskunde in Bonn als der prominentesten, aber keineswegs einzigen Organisation. Freilich umreißt diese Phase auch ein bestimmtes Generationenphänomen, insofern sich in der Weimarer Zeit einige Forscher etablieren und ihre Arbeit bis ins Nachkriegsdeutschland fortführen konnten. Das Jahr 1960 ist natürlich keine Zäsur, sondern verweist auf das allmähliche Zurücktreten dieser Generation. In dieser Zeit lassen sich auch konzeptionelle Um- und Neubewertungen beobachten, wie sich dies für die Vorstellungen von Raumordnung und -planung zeigen läßt (91-105). Ohne diese Zeitschiene in Frage stellen zu wollen, erscheint in dem Kontext der Hinweis Bernd-A. Rusineks bemerkenswert, daß die Betonung des Nationalen in der Suche der Geisteswissenschaften nach einer Legitimation begründet gewesen sei, mit der sie sich vor der wachsenden Dominanz der Naturwissenschaften schützen wollten; derartige konzeptionelle Wurzeln seien nicht auf die Weimarer Zeit zu terminieren, sondern ließen sich bis weit ins 19. Jh. zurückverfolgen (1195 ff.).

Die vier Sektionen des Werkes legen folgende Schwerpunkte: Teil I will übergreifende Themen versammeln. Hier ragt vor allem der Aufsatz zur Transdisziplinarität in dieser Zeit heraus (27-51). Weitere Beiträge thematisieren das Verhältnis von Politik und Wissenschaft, sowie die Begriffe Kulturraum, Planung als politische Leitkategorie und Raumordnung. Gleichwohl erscheinen die Themen von einer gewissen Beliebigkeit zu sein; ein Rahmen für die folgenden spezielleren Untersuchungen wird kaum abgesteckt. Zum zeitgenössischen Wissenschaftsbegriff findet man kaum etwas; auch der höchst komplexe Begriff des Volks oder der für den Band wesentliche Begriff der „Westforschung“ finden weder hier noch in der Einleitung der Herausgeber eine hinreichende Klärung. Dies stellt ein Grundproblem in der Konzeption des Werkes dar, da unklar bleibt, was der Begriff der „Westforschung“ leistet. Sicher soll ihm eine Klammerfunktion für die verschiedenartigen Befunde zugewiesen werden. Doch problematisch ist der Begriff insofern, als damit eine weitgehend koordinierte und einheitliche Bewegung suggeriert wird, wie sie durch die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft (dazu M. Fahlbusch und L. Mertens) und die teilweise massive staatliche Förderung wohl angestrebt wurde, in der Form aber kaum existent gewesen ist.

In Teil II sind inhaltliche Fallstudien zusammengeführt, wobei vor allem ideologische Überzeugungen und Prämissen in ihrer forschungsleitenden und -bestimmenden Wirkung ausgelotet werden. Teil III ist auf Organisationen und Institute fokussiert, Teil IV durch einen personengeschichtlichen Zugriff charakterisiert. Die auf den ersten Blick klare Strukturierung erweist sich insofern als wenig tragfähig, als die Kriterien Organisation und Persönlichkeit oft genug in eins fielen: Manche Institution war einfach eine organisatorische und karrieristische Plattform für einen „Westforscher“; eine Differenzierung mutet in einigen Fällen eher künstlich an. Überhaupt zeigt sich in vielen Fällen die dominante Bedeutung einiger Persönlichkeiten. Vor allem Franz Steinbach und Franz Petri durchziehen – freilich wenig überraschend – das Gesamtwerk, daneben fallen aber auch häufig die Namen Theodor Frings, Matthias Zender, Walter von Stokar, Alfred Stange, Hans Ernst Schneider (alias Hans Schwerte), Gerhard Kallen oder Robert Paul Oszwald. Hier zeichnen sich höchst aufschlußreiche Querverbindungen ab, die die universitären Netzwerke (unter Einschluß der federführenden administrativen Entscheidungsträger!) in diesen Jahrzehnten und damit auch die damaligen (personal-)politischen Entscheidungen deutlicher hervortreten lassen. Wenn viele dieser für diese Zeit maßgeblichen Namen mindestens in einem Beitrag eine ausführlichere Würdigung erfahren, vermißt man doch entsprechende Ausführungen zu Hermann Aubin.

Für eine ganze Reihe von „Westforschern“ läßt sich das Bemühen feststellen, verschiedene (Teil-)Disziplinen zu kombinieren und methodisch neue Wege zu beschreiten. Darunter fanden sich auch einige ideologiegesteuerte Ansätze, die deutlich machten, daß ihre Vertreter Wissenschaft karrierebewußt zu gestalten bereit waren. Allerdings wird man nicht alle Vertreter als regimetreu identifizieren können; mitunter waren es interessierte Laien, die weniger aus Überzeugung als vielmehr aus Interesse an einem damals aktuellen Thema zur Kooperation in Sachen „Westforschung“ bereit waren (vgl. etwa das Beispiel R. P. Oszwald). Auffällig ist gleichwohl, daß die Wissenschaftlichkeit vielfach ausgesprochen dürftig war. Das gilt für den Zweig der Religionsgeschichte (203 ff.), aber auch für den Bereich der Volkskörperforschung, wie ihn Karl Wülfrath zu etablieren versuchte (791 ff.). Selbst das innovative Potential bei einem prominenten Vertreter wie Franz Petri wird nicht zu überschätzen sein (vgl. M. Pitz, 225 ff.). Inwieweit wissenschaftliche Seriosität Kontinuitäten über das Jahr 1945 hinweg zu bewahren half, läßt sich kaum generell beantworten. Sicher erwies sich vieles, was in diesen Jahren produziert wurde, als kaum tragfähig, sobald der stützende ideologische Kontext weggefallen war; was aber oft genug blieb, waren karrierefördernde Netzwerke. Hinzu kommt, daß personelle Kontinuitäten nicht unbedingt einen konzeptionellen Stillstand bedeuteten, sondern mit entsprechenden methodischen Metamorphosen einhergingen.

Man mag an diesem Werk thematische Lücken monieren oder eine unzureichende Aufarbeitung verschiedener Aspekte, unbestritten bleibt jedoch ein immenser Erkenntnisgewinn, den diese knapp 1.300 Seiten bieten. Allerdings sind es vor allem Einzelbefunde, eine synthetisierende Zusammenfassung steht aus. Die Herausgeber selbst haben sich dieser Aufgabe bewußt versagt (siehe XXX); man sieht die Diskussion zu sehr im Fluß, als daß eine Bestandsaufnahme sinnvoll sei. Daß man sich eine übergreifende Debatte wünscht, deutet sich auch in den englisch- und französischsprachigen Zusammenfassungen an. In gewisser Weise kann der Beitrag von Bernd-A. Rusinek einen Ersatz leisten, der mit 60 S. die üblichen Dimensionen sprengt und gleichzeitig der das Gesamtwerk beschließende Aufsatz ist. Rusinek greift hier mit der Thematik der Forschungskontinuitäten über das Jahr 1945 viele einzelne Aspekte auf und bündelt sie zu einer Gesamtschau der sonst fragmentiert dargestellten Problematik.

Gleichwohl herrscht selbst bei Rusinek der Aspekt der forschungsgeschichtlichen Aufarbeitung vor; im gesamten Band geht es mehr um die Bewältigung der eigenen Forschungsgeschichte als daß der Blick auch nach vorne gerichtet wird: Welche Konsequenzen sich aus den Erkenntnissen über die Irrungen und Sackgassen der „Westforschung“ ableiten und ob sich ein Impuls für die weiteren Forschungsperspektiven und -Strategien der meist noch bestehenden Institute ableitet, wird so gut wie gar nicht thematisiert. Auch an dem Punkt zeigt sich, wie sehr man in der Bewertung der „Westforschung“ noch am Anfang steht.

Köln, Michael Kaiser

 

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