|   Süddeutsche 
      Zeitung, Freitag, 23.05.2003 Go West! 
       Ein Sammelband zur 
      völkisch- nationalen Westforschung   Adolf Hitler war begeistert. Endlich hatte einer der 
      von ihm verachteten „Profaxe“ ein Buch geschrieben, das so recht nach 
      seinem Geschmack war. Am 4. Mai 1942 las er spät in der Nacht die vier 
      Jahre zuvor entstandene Habilitationsschrift von Franz Petri über 
      „Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“. Dem gelehrten 
      Werk des Kölner Professors zur „fränkischen Landnahme“ in Frankreich und 
      den Niederlanden und über die „Bildung der westlichen Sprachgrenze“ 
      entnahm der Führer, dass es sich bei Wallonien und Nordfrankreich um altes 
      deutsches Land handle, das Deutschland geraubt worden sei. Solcherlei 
      wissenschaftlich untermauerte Erkenntnisse passten zu seiner Vision eines 
      Neuen Reiches, dessen Dimensionen das Imperium Karls des Großen bei weitem 
      übertrafen und das die germanischen Brüder in West- und Nordeuropa 
      heimholen sollte. Der Anteil einer völkisch-national ausgerichteten 
      Geschichtswissenschaft an der ideologischen Eroberung des 
      ostmitteleuropäischen Raums durch die Nationalsozialisten ist seit einigen 
      Jahren Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Diskussion. Doch auch 
      Geschichte und Geographie, Kultur und Sprache der westlichen Nachbarländer 
      wurde mit Hilfe der Kategorien „Volk“ und „Raum“ erschlossen. Aber die 
      „Westforschung“ wurde von der Wissenschaftsgeschichte bisher eher 
      stiefmütterlich behandelt. Diese Lücke ist nunmehr, zumindest für das 
      Gebiet der heutigen Benelux-Staaten, durch eine methodisch mustergültige 
      und inhaltlich differenzierte Darstellung geschlossen worden, die Burkhard 
      Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau herausgegeben haben. Auf 1300 Seiten 
      werden die Entstehung und Entwicklung einer interdisziplinären 
      Westforschung seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts 
      nachgezeichnet, die wissenschaftlichen Voraussetzungen und ideologischen 
      Grundlagen erörtert, die fächer- und themenspezifischen Ausprägungen 
      dokumentiert, die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen 
      geklärt, einzelne markante Akteure vorgestellt und die schwierige 
      Kontinuitätsproblematik aufgegriffen. Von den historisch wirksamen Faktoren „Volk“ und 
      „Raum“ ließen sich in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht nur 
      Historiker leiten, sondern auch Soziologen, Kunst- und Kirchenhistoriker, 
      Archäologen, Ethnologen, Geographen und Sprachwissenschaftler. Das 
      Innovationspotential einer zukunftweisenden „Volksgeschichte“ und 
      fächerübergreifenden „Kulturraumforschung“ begeisterte eine ganze 
      Forschergeneration. Die Nazis griffen die wissenschaftlichen Vorgaben 
      bereitwillig auf, um ihre Großmachtträume zu legitimieren. Und manchen 
      Gelehrten verleitete die politische Verwertbarkeit seiner Arbeiten zur 
      Kollaboration mit den braunen Machthabern. Nach dem Zusammenbruch des 
      Dritten Reiches wurden diskreditierte Wissenschaftler wie Franz Petri, 
      Hermann Aubin und Franz Steinbach nicht zuletzt mit Hilfe belgischer und 
      niederländischer Kollegen rehabilitiert. An ihren wissenschaftlichen 
      Überzeugungen, vor allem der Interdependenz vom „Volkstum“ und 
      „Kulturraum“, hielten sie nach 1945 fest und gaben sie an ihre Studenten 
      weiter. Die quellen- und detailgesättigte zweibändige Studie 
      stellt die kritische wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit 
      der „Westforschung“ auf eine neue Grundlage. Sie ist zugleich ein 
      wichtiger Beitrag zur notwendigen Diskussion um die Geburt persistenter 
      Deutungsmuster der bundesrepublikanischen Kulturwissenschaften aus dem 
      Geist der völkischen Geschichtsbetrachtung. Es ist zu hoffen, dass die von 
      den Herausgebern geplante Folgepublikation zu Frankreich, der Schweiz, 
      Lothringen und der Saar bald erscheinen wird. Dann heißt es endgültig: Im 
      Westen viel Neues.   STEFAN REBENICH   BURKHARD DIETZ, HELMUT GABEL, ULRICH TIEDAU (Hrsg.): 
      Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen 
      Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960). Waxmann Verlag, 
      Münster 2003. 2 Bände, zus. 1320 S., 74 Euro.   |