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Rezension aus: Erziehungswissenschaftliche Revue 3 (2004), Nr. 4 Das Subjekt in der Geschichte, die Akteure historischen Geschehens ziehen seit einiger Zeit im Rahmen einer methodisch erneuerten bildungshistorischen Biographieforschung wieder verstärktes Interesse auf sich. Dabei geht es nicht um eine traditionelle Personengeschichte der Pädagogik, sondern um sozialgeschichtliche Biographien in ihren zeitgeschichtlichen Netzwerken. Besonders im 20. Jahrhundert stellt sich aus einer solchen mikroanalytischen Perspektive dann immer auch die Frage nach bildungshistorischen Kontinuitäten und Brüchen. Oft sind es bislang unbekannte oder vergessene Pädagogen der zweiten Reihe, die durch diese Arbeiten in das disziplingeschichtliche Bewußtsein zurückgeholt werden. [1] In die Reihe dieser Arbeiten ist auch der Sammelband zu Fritz Helling (1888-1973), dem Entschiedenen Schulreformer und Mitbegründer des Schwelmer Kreises, eines gesamtdeutschen Netzwerkes reformorientierter, sich als Antifaschisten verstehender Pädagogen in der frühen Bundesrepublik, einzuordnen. Die Beiträge dieses leider – für den Peter-Lang-Verlag aber typisch – viel zu teuren Bandes basieren auf einer Tagung zu Fritz Helling im März 2002 in Schwelm. Daß Helling zunächst als „Außenseiter“ (S. 9), vergessener und verdrängter Pädagoge, als „Abweichler“ (S. 11) bezeichnet wird, scheint hinlänglich bekannte Stilisierungen zu bestätigen. Doch die Beiträge präsentieren keine Heldengeschichte eines vermeintlich zu unrecht Vergessenen, denn Helling wird „historisiert“ und es wird deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er nicht mehr „als Galionsfigur einer wie auch immer verstandenen ‚linken’ Pädagogik reklamiert werden“ kann (S. 12). Ziel der Untersuchungen ist vielmehr der Entwurf eines neuen und mehrperspektivischen Bildes von Fritz Hellings intellektueller Biographie, seines multidisziplinären Wirkens und seiner Pädagogik (S. 18). Helling sei – wie es in der Einleitung heißt – „in der Geschichte der deutschen Pädagogik insofern eine besondere Bedeutung beizumessen [...], als er erstens durch sein vielgestaltiges publizistisches Werk, zweitens durch seine praktischen Versuche und theoretischen Reflexionen zur Revision der Erziehungswissenschaft und des Unterrichts sowie drittens durch sein umfangreiches wissenschaftsorganisatorisches Engagement als eine wichtige Figur der deutschen Reformpädagogik anzusehen ist“ (S. 15). Disziplingeschichtlich hätten diese Erkenntnisperspektiven vielleicht nur dokumentarischen Charakter, ließen sich nicht an der pädagogisch-politischen Biographie Hellings auch Themen diskutieren, die eine über die Biographie hinausreichende Bedeutung haben. Insofern gehen die Beiträge des Bandes einige Schritte weiter, auch wenn sie sich nicht explizit an den Methoden bildungshistorischer Biographieforschung orientieren und methodisch durchaus heterogen sind. Sie zeigen Helling „nicht mehr [...] von vornherein in seiner Sonderstellung [...], sondern zunächst als jemanden, der sich mental kaum von vielen seiner Zeitgenossen unterschieden und erst ganz allmählich [...] zum intellektuellen Abweichler entwickelt hat“, wie Wolfgang Keim im Vorwort betont (S. 11). Unter dieser Perspektive läßt sich der Band dann auch als Beitrag zur Ambivalenz der Bildungsgeschichte vor allem der frühen Bundesrepublik lesen. Interessiert haben mich hauptsächlich die reformpädagogischen Arbeitsfelder, Netzwerke und (Selbst-)Interpretationen der Reformpädagogik Fritz Hellings Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre. Galt die Adenauer-Ära bislang vor allem als Phase der Restauration, zeichnen neuere historische Studien ein differenzierteres Bild. Und dies setzt vereinzelt auch in der Historischen Bildungsforschung ein, wofür der vorliegende Sammelband ebenfalls in Teilen ein Indiz ist. Solche Differenzierungen beachtend, versuchen die 17 Beiträge des Bandes die bildungshistorische Bedeutung Fritz Hellings interdisziplinär zu umreißen. Thematisiert werden neben den einführenden Beiträgen von Jürgen Reulecke (zum jugendbewegten Aufbruch ins 20. Jahrhundert) und Wolfgang Keim (zur Biographie Hellings) drei thematische Blöcke: Intellektuelle und berufliche Sozialisation in Kaiserreich und Weimarer Republik; ‚Innere Emigration’ und wissenschaftliche Studien in der Zeit des Nationalsozialismus; „Politischer Pädagoge“ in der Zeit des Kalten Krieges. Ein Verzeichnis der Abkürzungen und ein Personenregister helfen dem Leser, diesen Tagungsband zu erschließen. Die Einzelbeiträge der drei Schwerpunkte widmen sich folgenden Themen: Hellings Sozialisation (Cornelia Hackler); Helling als Altphilologe (Otto Geudtner); Helling als Philologe (Juliane Eckhardt); Sozialistische Orientierung und frühe Opposition gegen den Nationalsozialismus (Burkhard Dietz); Der Bund Entschiedener Schulreformer (Jürgen Eierdanz); Das Schwelmer Realgymnasium zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (Georg Dieker-Brennecke); Hellings Gestapo-Haft und seine ‚innere Emigration’ (Franz-Josef Jelich); Hellings „Frühgeschichte des jüdischen Volkes“ (Siegfried Kreuzer); Helling als Historiker (Burkhard Dietz); Comenius im Horizont Hellings (Klaus Schaller); Die Auseinandersetzung Hellings mit Eduard Spranger (Klaus Himmelstein); Fritz Helling und der Aufbau des höheren Schulwesens in Nordrhein-Westfalen (Jürgen Sprave); Hellings gesamtdeutsche Pädagogik im Schwelmer Kreis in der Perspektive der DDR-Wissenschaft (Christa Uhlig); Von den Schwierigkeiten eines Reformers und Querdenkers mit seiner Heimatstadt (Georg Dieker-Brennecke); Erneute politische und gesellschaftliche Diskriminierung in den 1950er und 1960er Jahren (Burkhard Dietz). Sind manche Beiträge auch zuweilen redundant (etwa Dieker-Brenneckes Beitrag zum Schwelmer Realgymnasium zu Keims einführender biographischer Skizze), so ergibt sich insgesamt dennoch ein zwar immer noch lückenhaftes – denn die Person verschwindet noch zu sehr hinter dem Werk –, aber aussagekräftiges und facettenreiches Bild dieses Pädagogen, der keineswegs nur unkritisch gesehen wird. So konstatiert z.B. Klaus Schaller zu Recht „eine dogmatische Verhärtung“ (S. 301) von Hellings Pädagogik, und auch Wolfgang Keim zeigt auf, daß es unter Hellings Schülern neben viel Bewunderung und Sympathie durchaus auch eine „inhaltliche Distanz“ (S. 56) zu seinen „materialistischen Analysen der Geschichte“ (ebd.) gab. Mit Blick auf Hellings Reformpädagogik läßt der Befund aufhorchen, daß es „ungeachtet aller Kontinuität im Denken Hellings von Weimar bis in die Bundesrepublik [...] Verschiebungen und Neuansätze“ gibt, „insbesondere die bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre stärkere Gewichtung verbindlicher Bildungsziele gegenüber der Forderung nach Berücksichtigung kindlicher und jugendlicher Individualität“ (S. 86). Helling selbst hatte dies in seiner Autobiographie so dargestellt. Zweifellos spielte bei dieser Selbstrevision Hellings politische Verortung im Sozialismus eine Rolle. Doch trotz seines „aufrechten Gangs“ in der NS-Zeit geht mir der Übergang von reformorientierter Schulpädagogik zu Reformrhetorik und Politik zu glatt und v.a. zu dogmatisch, als daß ich ihm folgen und dies mit Wolfgang Keim als Hellings „Vermächtnis an heutige Pädagogen“ (S. 90) bezeichnen würde. Zu deutlich überlagert der „politische Pädagoge“ den pädagogischen „Aufklärer“ und Reformer Helling. Dieser schreibt 1958: „Wir alle hatten den individualistischen Utopismus, zu dem wir uns früher mehr oder weniger hatten verleiten [!!] lassen, überwunden. Wir waren insofern Realisten geworden, als wir die Bedeutung der gesellschaftlichen Umwelt für das pädagogische Gelingen erkannt hatten. [...] Wir hatten gelernt, daß jeder Schulreformer sich dafür einsetzen muß, daß die fortschrittlichen Kräfte [!] in der Gesellschaft und ihre Politik zum Siege kommen, damit eine Schulerneuerung wirklich durchgesetzt werden kann“ (Helling zitiert nach S. 90-91). Dieser Sprachduktus klingt (gerade vor dem Hintergrund der gesamtdeutschen Aktivitäten des Schwelmer Kreises) bekannt und entlarvend. Und gerade deshalb ist Wolfgang Keim zuzustimmen, wenn er ebenfalls anmerkt, daß wir „mit dem historischen Abstand deutlicher die Grenzen von Pädagogik und politischem Engagement [erkennen], ebenso die Notwendigkeit, gesellschaftliche Machtverhältnisse sehr viel nüchterner und realitätsbezogener zu analysieren als Helling dies getan hat“ (S. 90). Gleichwohl bezeichnet Keim Hellings Selbstrevision als sein Vermächtnis. Ein Vermächtnis ist ein Erbe, in diesem Falle eine anzueignende Botschaft, aus der man etwas lernen kann und soll. Wenn ein solcher historischer Lernprozeß auch zu Recht gefordert wird, dann kann man m.E. aus der deutschen Bildungsgeschichte – und an Helling – v.a. lernen, daß man als Pädagoge die eigenen, genuin pädagogischen Handlungsorientierungen – die Autonomie der Pädagogik, wie man auch sagen könnte – nicht allzu leichtfertig zu Gunsten einer gesellschaftlich vermittelten politischen Perspektive aufgeben sollte. Aus reformstrategischen Gründen sind Bündnisse, wie sie Helling andeutet, zweifellos richtig und sinnvoll. Auch ist es unverzichtbar, als Pädagoge ein politisch waches, kritisch-konstruktives Bewußtsein zu haben. Doch wenn dabei die Politik dann schnell das Primat vor der Pädagogik erhält, wie bei Helling, ist mit Blick auf die Schüler und die realisierte Schulpädagogik durchaus Vorsicht geboten. Daß Pädagogik besser gelingen könne, wenn sie sich als Politik mit anderen Mitteln definiert, dürfte aufgrund mindestens zweier historischer Erfahrungen im 20. Jahrhundert inzwischen als ebenso problematisch wie obsolet gelten. Mit Blick auf die Bildungsgeschichte der 1950er Jahre ist darüber hinaus der Beitrag von Jürgen Sprave interessant, des derzeitigen Leiters des Märkischen Gymnasiums in Schwelm und damit einer von Hellings Nachfolgern in der Schulleitung. In seinem langen Beitrag (S. 319-401) stellt er Hellings reformpädagogische Praxis am Schwelmer Gymnasium Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre dar und verortet sie – überwiegend auf der Grundlage von Archivalien aus dem Schularchiv – in den zeitgenössischen Schulreformdebatten. Wenn der Beitrag auch an vielen Stellen zu detailverliebt ist und dadurch den roten Faden des Erkenntnisinteresses ab und zu aus den Augen verliert, entfaltet Sprave dennoch ein Panorama zeitgenössischer Diskussionen, das zeigt, daß die pädagogischen Debatten um Schulreform in den 1950er Jahren durchaus fast so vielfältig wie in den 1920er Jahren waren, an unterschiedlichen Orten geführt wurden und auch die Unterstützung mancher Kultusbehörden fanden. Deutlich wird dies z.B. an den Diskussionen um eine Auflockerung der gymnasialen Oberstufe und den Werkunterricht; zwei Aspekte, die auch zu den Kernstücken in Hellings Reform zählten. Eine Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts in der gymnasialen Oberstufe durch Fächerwahl und ein Kern-Kurs-System wurde nicht nur in Schwelm in Nordrhein-Westfalen, sondern auch z.B. in Niedersachsen und in Hessen diskutiert und praktisch erprobt. Als Hessische Schule in freier Trägerschaft gehörte auch die Odenwaldschule zu diesen Modellschulen. Vor dem Hintergrund von Hellings Biographie wundert es insofern kaum, daß es 1951 zwischen Helling und dem Leiter der Odenwaldschule zu einem „regen Informationsaustausch“ (S. 331) kam. Und verblüffend sind auch die parallelen Erfahrungen, die Helling und die Odenwaldschule mit der differenzierten Oberstufe machten und die Sprave detailliert für die Schwelmer Schule darstellt. Hier zeigt sich eine praktische und kritisch begleitete Vorgeschichte der Bildungsreformen der späten 1960er Jahre schon in den 1950er Jahren ab, die wesentliche Impulse gab. Solche Vernetzungsperspektiven sind das eigentlich Interessante an dem vorliegenden Band, denn hier zeichnen sich mögliche Anschlußarbeiten ab, die die Bildungsgeschichte der frühen Bundesrepublik in einigen Teilen neu schreiben dürften. Und dabei spielt dann auch ein scheinbarer Außenseiter und Querdenker wie Helling plötzlich keine so große Außenseiterrolle mehr. Wenn die „von Burkard Dietz ins Leben gerufene Helling-Forschung“ (S. 13) wirklich fortgesetzt werden sollte, dann wäre zu wünschen, daß sie sich auf der Grundlage der vorgelegten biographischen Studien in diesem Sinne verstärkt der Schulreform und der Reformpädagogik der fünfziger Jahre und ihren Netzwerken zuwendet. Jörg-W. Link (Potsdam)
[1] vgl. auch die Rezension der Studie von Bernd Dühlmeier: Und die Schule bewegte sich doch. Unbekannte Reformpädagogen und ihre Projekte in der Nachkriegszeit. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 4
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