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Diese weite geistige Existenz

Ein Interview von Heike Rudolph mit Burkhard Dietz im Rückblick auf die Tagung „Fritz Helling – ein Aufklärer und ‚politischer Pädagoge‘ im 20. Jahrhundert“[1]

Vom 8. bis 9. April 2002 fand im „Haus Friedrichsbad“, Schwelm, eine Tagung zum Thema „Fritz Helling – ein Aufklärer und ,politischer Pädagoge’ im 20. Jahrhundert“ statt. Veranstaltet wurde das Symposion von dem Kulturwissenschaftler Dr. Burkhard Dietz (wissenschaftliche Leitung) und dem Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation, einem Institut der Ruhr-Universität Bochum. Die von der Wilhelm-Erfurt-Stiftung für Kultur und Umwelt, Schwelm, geförderte Zusammenkunft stand unter der Schirmherrschaft von Professor Dr.-Ing. Jürgen Helling, dem in Schwelm geborenen Sohn Fritz Hellings und emeritierten Direktor des Instituts für Kraftfahrwesen der RWTH Aachen, und dem Bürgermeister der Stadt Schwelm, Privatdozent Dr. Jürgen Steinrücke.

„Der in den 20er bis 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einflußreiche Reformpädagoge und Marxist Fritz Helling (1888-1973) ist heute nahezu unbekannt“, so Dr. Dietz. „Die Tagung suchte mit Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte, historischen Pädagogik und intellektuellen Biographie diesem Vergessen entgegenzuarbeiten. Neben dem pädagogischen Wirken Hellings wurden erstmalig auch seine übrigen Arbeiten zu Geschichte, Literatur und Theologie untersucht und das oft schwierige, aber höchst aufschlußreiche Verhältnis eines deutschen ,Querdenkers’ zu Staat und Gesellschaft im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts problematisiert“.

 

Im folgenden Gespräch mit Heike Rudolph zieht Dr. Burkhard Dietz eine vorläufige Bilanz der Tagung:

 

Herr Dr. Dietz, warum eine Tagung über einen Mann, der Ihren eigenen Worten zufolge „heute nahezu unbekannt“ ist?

Ich habe ein Faible für Menschen, die ‚unbekannt‘ sind, wie Fritz Helling, der nur für eine gewisse Öffentlichkeit als Aufklärer und Schulpädagoge eine Rolle spielte oder spielt. Wie schon in anderen wissenschaftlichen Projekten wollte ich nun mit Bezug auf Helling unter anderem gern zeigen, daß nicht immer nur die bekannten und vermeintlich ‚prominenten‘ Menschen die Träger wichtiger Bewegungen sind – wie wir uns das aus der Perspektive des Medienzeitalters heute so gern vorgaukeln lassen –, sondern daß oft die Menschen aus der sogenannten ‚zweiten Reihe‘ die eigentlichen Leistungsträger waren oder sind und daß sie die bessere Arbeit leisten und die eigentlichen Ideenlieferanten sind.

Außerdem meine ich, daß Helling eine Persönlichkeit war, die man in zukunftsweisender und allgemein kultureller Perspektive in Schwelm noch ganz anders als bisher historisieren könnte und sollte, weil er als eine der markantesten und bedeutendsten Persönlichkeiten der neueren Stadtgeschichte Schwelms anzusehen ist. Aus dieser Tatsache und vor allem aus seinem in vielerlei Hinsicht vorbildlichen Leben ließen sich mit etwas Phantasie etliche Folgerungen ableiten, die meines Erachtens eine interessante Ergänzung und Belebung des kulturellen Lebens in Schwelm mit sich bringen könnten. Der Persönlichkeit Fritz Hellings kann zweifellos der Rang einer gewissen historischen Größe beigemessen werden, das kam auch in dem Radiobericht des WDR über unsere Tagung sehr schön zum Ausdruck[2]. Für die historisch-politische Identitäts- und Image-Bildung ist eine solche Persönlichkeit, zumal sie uns als Figur des 20. Jahrhunderts noch relativ nahe steht, von erheblicher kultureller Bedeutung.

Ziel der Tagung war es mithin, nicht nur den pädagogischen Reformer vorzustellen, sondern auch einen Menschen mit all seinen Widersprüchen und mitunter schwer erklärbaren Entwicklungsphasen, der noch über ganz andere als die bisher bekannten Seiten verfügte, zum Beispiel über vielfältige wissenschaftliche Ambitionen, die sich in hochinteressanten Veröffentlichungen und menschlichen Kontakten niederschlugen und die von der bisherigen Forschung völlig vernachlässigt worden sind. Dies gilt auch für eine differenzierte Analyse seiner tatsächlich durchgeführten pädagogischen Reformen und für weite Teile seiner intellektuellen Biographie, die von der älteren Forschung nur in groben Zügen dargestellt werden konnte, weil ihr die dafür wichtigste Quelle, die Autobiographie Fritz Hellings, nicht zur Verfügung stand. Dies ist nun dank der freundlichen Unterstützung von Fritz Hellings Sohn anders, der uns dieses einzigartige Unikat großzügig zur wissenschaftlichen Auswertung und zur späteren Publikation überlassen hat. Als Veröffentlichung wird sie den Band mit den Beiträgen zur Tagung[3] demnächst ergänzen und die wissenschaftliche Zwischenbilanz der Helling-Forschung, die wir mit unserem Gesamtprojekt vorlegen werden, sinnvoll abrunden[4].

Aus diesem Programm ist zu ersehen, daß es uns von vornherein besonders wichtig war, erstens die Helling-Forschung insgesamt zu erneuern, sie auf ein neues Fundament breiter, solider und ausgewogener interdisziplinärer Forschung zu stellen, so wie es ihrem Betrachtungsgegenstand nur im höchsten Maße angemessen ist. Zweitens war es uns wichtig, die in der Vergangenheit vielfach zu beobachtende Tendenz zur politischen Heroisierung von Hellings Person, durch die er manchmal geradezu zum Prototypen des antifaschistischen Rotfrontkämpfers stilisiert wurde, auf unserer Veranstaltung nicht zuzulassen, weil derartige Vereinnahmungen historischer Persönlichkeiten natürlich einer jeden seriösen sozialhistorischen Forschung grundsätzlich abträglich sind. In diesem Zusammenhang war es darüber hinaus unser Ziel, gerade diese unlauteren Tendenzen als Strategien gezielter Geschichtspolitik und interessengeleiteter politischer Instrumentalisierung öffentlich zu decouvrieren und zu dechiffrieren, sie als Teil und Nachklang des eigentlichen geschichtlichen Prozesses zu beschreiben und kenntlich zu machen. Dies ist uns rundum gelungen, und insofern trifft auch eine später geäußerte Kritik einstiger politischer Mitstreiter an der Tagung nicht. Sie hatten sich nämlich mit der – ihrer Auffassung nach – „historisierenden Aufarbeitung des Hellingschen Erbes“ unzufrieden gezeigt und mokant geäußert, Helling seien auf der Veranstaltung ja lediglich „die Zähne gezogen worden“, sein politisches Engagement sei gegenüber seinem pädagogischen zu kurz gekommen[5]. Das genaue Gegenteil war jedoch der Fall, wie etwa die Beiträge über Hellings sozialistische Orientierung und frühe Opposition gegen den Nationalsozialismus[6] und über seine erneute politische und gesellschaftliche Diskriminierung in den 1950er und 1960er Jahren zeigten[7]. Wahrscheinlich paßte nur manchem Teilnehmer, der den ideologischen Traditionen des mittlerweile selbstinszenierten Klassenkampfs verhaftet war, die Offenlegung der gesamten Breite der historischen Tatsachen und die Ausgewogenheit der Darstellung und Interpretation nicht, die in jedem Referat konsequent vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politik- und kulturgeschichtlichen Kontexte vorgenommen wurde.

 

Das Symposion ist über einen langen Zeitraum zustande gekommen?

Rund sechs Jahre habe ich mich mit den Vorarbeiten befaßt. Zunächst habe ich den Kontakt zu Prof. Dr.-Ing. Jürgen Helling – den Nachlaßverwalter seines Vaters und zweifellos wichtigsten Zeitzeugen für unser Vorhaben – aufgebaut. Er hat aus dem Nachlaß die bisher nur als Unikat überlieferte Autobiographie seines Vaters als EDV-Manuskript erfassen lassen und damit eine der zentralen Quellen für unsere Tagung zur Verfügung gestellt. Dann habe ich die Quellen- und Forschungslage eingehend sondiert und dabei einige wichtige Quellenbestände neu erschlossen und unseren Referenten zugänglich gemacht. Daraus wiederum habe ich ein Idealkonzept für das Tagungs- und Publikationsvorhaben und eine Projektskizze entwickelt, die geeigneten wissenschaftlichen Experten und institutionellen Kooperationspartner gesucht und für die Mitarbeit zu gewinnen versucht. Und schließlich habe ich die finanziellen Mittel für die praktische Durchführung der Tagung eingeworben. Last, but not least mußte den Referenten selbstverständlich eine ordentliche Zeitspanne für die Bearbeitung ihrer spezifischen Fragestellungen zur Verfügung gestellt werden, die zum größten Teil ja völlig neu aus den Quellen erarbeitet und von den Autoren durchweg neben ihren übrigen Verpflichtungen erstellt werden mußten. Dies und vieles andere mehr galt es zu berücksichtigen und immer einvernehmlich, streßfrei und vor allem stets mit Blick auf den größtmöglichen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu regeln, was dank der insgesamt guten Kooperation aller Mitwirkenden aber auch nie problematisch war. Allein den Termin der Tagung mußte ich mit Rücksicht auf die genannten Aspekte zweimal verschieben, denn ursprünglich hätte sie genau ein Jahr zuvor stattfinden sollen.

 

Sechs Jahre lassen vermuten, daß weder alle Arbeiten von Helling, noch alle Arbeiten über Helling geschlossen und griffbereit vorliegen. Und wahrscheinlich ist die Zahl der Zeitgenossen, die sich mit Helling befassen, nicht so groß, als daß sich ein übersichtlicher Referentenkreis geradezu aufgedrängt hätte?

Beides stimmt. Ich kannte im Grunde nur die Quellen-Literatur (mit Ausnahme seiner ‚Deutschen Literaturgeschichte‘, die ich erst im Zuge der Tagungsvorbereitungen entdeckte), dann habe ich recherchiert, telefoniert und wurde oft bis zu den eigentlichen Experten weitergereicht. Denen habe ich dann das Gesamtunternehmen vorgestellt und sie – in der Regel nach einer gewissen ‚Aufwärmphase‘ – um ihre Mitarbeit gebeten. Es war eine total positive Erfahrung, auf wieviel Zuspruch und Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit ich dabei gerade bei den angesprochenen, durchweg renommierten Wissenschaftlern gestoßen bin.

So hat es gewissermaßen die Stammannschaft der Pädagogikhistoriker gegeben, die sich wissenschaftlich bereits früher intensiv mit Fritz Helling und seinem pädagogischen Wirken beschäftigt hatten. Gemeint sind hier die Referenten Prof. Dr. Wolfgang Keim (Paderborn), der die pädagogische Helling-Forschung durch eigene und betreute Studien schon seit den 70er Jahren maßgeblich gefördert und vorangetrieben hat, Dr. Jürgen Eierdanz (Marburg), der über den „Bund Entschiedener Schulreformer“ promoviert hat, und Dr. Klaus Himmelstein (Krefeld), der früher schon über den „Schwelmer Kreis“ gearbeitet hat.

Im Gegensatz zu ihnen kannten einige Gesprächspartner und potentielle Referenten, bei denen ich anklopfte, Fritz Helling bis dahin aber noch gar nicht. Sie haben sich dann mit Person und Werk auseinandergesetzt, und ich freue mich sehr, daß sie schließlich mitgemacht haben, denn alle waren und sind ausgesprochene und unverzichtbare Experten auf den hier gefragten Spezialgebieten, etwa der Literaturgeschichte, der Altphilologie, der frühen, aus dem Alten Testament abgeleiteten ‚Geschichte des jüdischen Volkes‘ und der Comenius-Forschung. So gelang inhaltlich letztlich ein recht gut proportionierter Ausgleich a) zwischen den pädagogischen Themen und den übrigen, durchweg zum ersten Mal erforschten Fragestellungen der anderen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen sich Helling zu Wort gemeldet hat, und b) zwischen den übergreifenden Problemen und den ebenfalls völlig neu erarbeiteten Themen mit stadt- und regionalgeschichtlichem Schwerpunkt. Bewußt sollte es auf der Tagung mit ihren insgesamt 16 Referenten also um wesentlich mehr gehen als um den in seinen Grundzügen bereits recht gut bekannten Reformpädagogen.

 

Welche Einflüsse oder Ereignisse haben Fritz Helling entscheidend geprägt?

Die entscheidende Zäsur seines Lebens war der Erste Weltkrieg. In den ist Helling als Freiwilliger gezogen, hat – dies ist übrigens eine interessante Parallele zu Ernst Jünger – zu Beginn des Krieges einige große Schlachten an der Westfront mitgemacht und kam nach einer schweren Verwundung, aber ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz, schon Ende 1915 nach Schwelm zurück. Der 1918 erfolgte Zusammenbruch der alten Welt, des wilhelminischen Kaiserreichs, hat ihn – wie viele andere Zeitgenossen – in eine tiefe persönliche Identitätskrise gestürzt, die ihn über Monate hinweg nach neuen Orientierungspunkten suchen ließ. Zunächst wie seine Eltern national-liberal und überaus patriotisch gesinnt, steht erst am Ende dieser Übergangsphase Hellings überzeugendes Bekenntnis zum Sozialismus. Bis 1923 reicht diese Inkubationszeit, in der er nach neuen Lebenshaltungen und Weltanschauungen Ausschau hielt. Denn er war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß seine Generation durch einen allzu großen Idealismus zur Teilnahme am Weltkrieg verführt worden war.

Bei seiner Sinnsuche hat ihm sein Engagement als Leiter des Schwelmer Wandervogels und die damit verbundene Natur- und Freiheitsliebe sehr geholfen. Nun, und das wurde der entscheidende Ansatzpunkt seines künftigen Lebens, wollte er für und durch die Jugend wirken, denn in ihr erblickte er den Hoffnungsträger für eine neue Gesellschaft. Sie sollte nicht durch einen unkritischen, nicht weiter hinterfragten Idealismus gefährdet werden. Hierzu gehörte für Helling von vornherein ein frühes und entschiedenes Nein zum Nationalsozialismus.

In München hat Helling 1923 eine Propaganda-Veranstaltung der NSDAP besucht und Hitler reden gehört. Dies schildert Helling in seiner Autobiographie ebenso wie seine unmittelbare Reaktion auf das hysterische Gekeife des österreichischen Gefreiten: Angewidert vom fanatischen Antisemitismus Hitlers wandte sich Helling, der die jüdischen Professoren seiner Göttinger und Berliner Studienzeit noch immer sehr verehrte, von der Veranstaltung und der „Bewegung“ ab, allerdings nicht ohne sich in der Münchner Parteizentrale von Hitler persönlich Propaganda-Material aushändigen zu lassen, aus dem er wenig später schon in seinen gegen den Nationalsozialismus gerichteten Reden gut zitieren konnte.

 

Worin bestand der Reformcharakter der Arbeit Fritz Hellings?

Kurz und schlagwortartig gesagt bestand er einerseits in der Vermehrung von Demokratie und andererseits in der Verringerung von Autorität, zumal einer Autorität von Lehrern, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Schüler züchtigten und malträtierten. Die preußische Lehrmethode besaß paramilitärische Züge, die vor allem den willenlosen Gehorsam der Schüler trainierten. Schüler mußten endlos auswendig lernen und durften sich kaum aktiv in den Unterricht einbringen. Diese verkrusteten Strukturen hat Fritz Helling, wie andere Reformpädagogen seiner Zeit, konsequent aufzubrechen versucht. Er ist neue Wege gegangen, hat den Lehrer – nicht zuletzt dank der Freizeitangebote, die er mit den Schülern wahrnahm – als Menschen vorgelebt, hat den Schülern beigebracht zu reflektieren, eigene Gedanken zu wagen und sie zu diskutieren. Das Gespräch einzuüben, hieß ja auch, den Unterricht zu demokratisieren. Und das zu einer Zeit, in der die Demokratie sich erst einmal selbst erproben mußte. Konkret sah das zum Beispiel so aus, daß er mit den Schülern im Geschichtsunterricht Parlament spielte, indem er die Klasse in Fraktionen einteilte und sie These und Antithese rhetorisch üben ließ.

Außerdem hat er am Schwelmer Gymnasium den Werkunterricht eingeführt mit Angeboten in der Schreinerei, Buchbinderei und Schlosserei. Die Gymnasiasten – in der Regel Jungen aus den sogenannten ‚höheren Kreisen‘, also dem Besitz- und Bildungsbürgertum – sollten ja die künftige Elite des Staates stellen und hätten sich daher wohl nie die Hände mit eigener handwerklicher Arbeit schmutzig gemacht. Nun aber übten sie im Unterricht unter Anleitung erfahrener Handwerker den Umgang mit Werkstoffen ein und lernten damit aus eigener Anschauung kennen, worüber sie später vielleicht einmal zu urteilen haben würden. Außerdem wollte Helling so in seinen privilegierten Schülern Verständnis für Belange der Arbeitswelt und sozialen Frage wecken.

Ein weiteres wichtiges Element von Hellings reformpädagogischem Wirken war nach dem Zweiten Weltkrieg die Einführung eines nach Schwierigkeitsgraden unterteilten Kurssystems, mit dem im Grunde die 1974/75 in Nordrhein-Westfalen eingeführte Differenzierte Gymnasiale Oberstufenreform vorweggenommen wurde. An diesen drei, hier nur stichwortartig erläuterten Elementen erkennen Sie schon die ganze Tragweite – früher hätte man gesagt: das nahezu revolutionäre Potential – der Hellingschen Reformbemühungen.

 

Müssen wir nach der Tagung unser Bild oder unsere Bilder von Fritz Helling ändern?

Es hat keine radikale Neudeutung, aber in großen Bereichen eine grundlegende Erweiterung und Vertiefung unseres Wissens über Helling gegeben. Darüber hinaus hat der breite Ansatz des Treffens, der Arbeit und Leben Fritz Hellings zu verschiedenen Zeiten darstellen und deuten wollte, für uns als Zeitgenossen die Erkenntnis erbracht, wie sehr das 20. Jahrhundert einen Menschen in die Pflicht nehmen und wie er dabei zum Vorbild werden konnte. Helling wurde im deutschen Kaiserreich kurz vor der Amtsübernahme Wilhelms II. geboren, hat den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg sehr bewußt und zum Teil auch politisch sehr aktiv erlebt und erlitten. Seit 1931 hat er in ganz Deutschland Reden gegen Hitler gehalten, ja regelrechte Propaganda-Touren gegen den erstarkenden Nationalsozialismus durch das Reich durchgeführt, wofür er nach der „Machtergreifung“ von 1933 natürlich gleich mit einem Berufsverbot belegt und vorübergehend auch mit Gestapo-Haft verfolgt wurde, um dann durch die Hilfe einflußreicher Freunde und ehemaliger Schüler den Rest des „tausendjährigen Reiches“ in der sogenannten Inneren Emigration zu verbringen. Nach 1945 setzt Helling dann, wie übrigens viele seiner Zeitgenossen, auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung und findet schließlich in der Zeit des Kalten Krieges mit seinem aus der Vorkriegszeit wieder aufgenommenen Engagement als Pädagoge und Pädagogik-Funktionär seine Rolle in der Vermittlung zwischen West und Ost.

Sie sehen, Hellings Lebensgeschichte hat schon von den äußeren Ereignissen her betrachtet einiges an historischer Erkenntnis zu bieten, und zwar bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein. Zum Ende seines Lebens wird nämlich noch die Frage virulent, ob er sich bewußt von der Stasi in Dienst nehmen ließ, denn erst bei der Vorbereitung der Tagung wurde bekannt, daß er noch nach der Staatsgründung der DDR und dem Mauerbau Wissenschaftler gezielt und zum Teil erfolgreich für eine Übersiedlung in die DDR gewonnen hat, vermutlich in der idealistischen Überzeugung, sie zur Mitwirkung am Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung zu bewegen. Möglicherweise geschah dies aber auch im direkten Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit, was allerdings noch genauer zu erforschen wäre[8].

 

Hat sich Fritz Helling selbst zwischen viele Stühle gesetzt oder ist er dazwischen gesetzt worden?

Sicher haben die Zeitläufte ihn dazwischen gesetzt, aber er half auch aktiv dabei mit, denn als ab 1948 die weltpolitische Blockbildung in den Köpfen der breiteren Öffentlichkeit ankam, galt jeder Kontakt mit „drüben“ als verwerflich. So wurde Helling aufgrund seiner häufigen Besuche aus der SBZ / DDR und seiner nicht minder häufigen Reisen dorthin und in die Tschechoslowakei in seiner Heimat bald zur persona non grata und vom Verfassungsschutz observiert. Es standen Leute vor seinem Haus, die genau registrierten, wer ihn besuchte und was sein Besuch unternahm.

1951 ließ Bundesinnenminister Gustav Heinemann den von Fritz Helling gegründeten und geleiteten „Schwelmer Kreis“ und den „Demokratischen Kulturbund“, in dem Helling und sein Ex-Schüler, Freund und Mitarbeiter Walter Kluthe (1915-1992) aktiv waren, als verfassungsfeindlich einstufen. Helling reagierte auf den sogenannten Heinemann-Erlaß sofort und stellte in dem Bewußtsein, jetzt wieder Außenseiter oder gar politisch Verfolgter zu sein, einen Antrag auf vorzeitige Versetzung in den Ruhestand. Noch 1963 untersagte ihm das Kollegium des Märkischen Gymnasiums – die Lehrerschaft ‚seiner Schule‘ – die Benutzung der Aula zur Durchführung einer größeren Feier anläßlich seines 75. Geburtstags. Doch 1968, als sich das politische Klima in der Bundesrepublik bereits spürbar verändert hatte, ehrte ihn die Stadt im Schloß Martfeld mit einem repräsentativen Festakt, es gab ein Essen im Restaurant des Hotels „Prinz von Preußen“, und dabei erschien auch eine Delegation aus der DDR, die ihm die Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität Berlin überreichte. Die Schwelmer Öffentlichkeit erfuhr dies allerdings erst im nachhinein durch eine von der hiesigen Presse aus dem „Neuen Deutschland“, dem Zentralorgan der SED, übernommene Meldung. In Prag wurde Fritz Helling dann noch wenig später für seine Verdienste um eine zeitgemäße Berücksichtigung der Pädagogik des berühmten tschechischen Gelehrten Comenius von Seiten des Staates ausgezeichnet. Bei beiden Ehrungen darf man jedoch keinesfalls übersehen, daß die einstigen Ostblockstaaten aus Gründen der Propaganda und Nachrichtenbeschaffung ein nachhaltiges Interesse daran hatten, sich mit akademischen ‚Sympathisanten‘ aus dem Westen à la Helling zu schmücken, zumal bei ihnen immer auch die Möglichkeit gegeben war, sie durch gezielte Vereinnahmungsstrategien als Informanten oder Anwerber für begehrtes, hoch qualifiziertes wissenschaftliches Personal und natürlich auch als Multiplikatoren für die Aufbesserung ihres allgemein lädierten Ansehens zu gewinnen.

 

Man spricht immer vom Leben Fritz Hellings, das ja auch seine Familie mitgeprägt hat und von ihr mitgelebt wurde. Wie integriert, wie isoliert war die Familie Helling?

Es gab eine kleine Gruppe von Personen und Familien, die mit Fritz Helling und seiner Familie gut bekannt oder gar befreundet war und dazu eine große Anzahl ehemaliger Schüler, die sehr positiv zu ihm standen, ja ihn als ehemaligen Lehrer ihr Leben lang verehrten. Diese Verehrung geht bis heute über alle politischen, gesellschaftlichen und generationsspezifischen Grenzen hinaus. Dies wurde schon 1981 in einer 45-minütigen Reportage des WDR-Fernsehens (Petra Seeger, Jürgen Heiter: „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde. Schüler im Dritten Reich“) sehr gut dokumentiert, als anhand von drei Schülergenerationen die Hellingsche Pädagogik der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik der NS-Pädagogik gegenübergestellt wurde. Die Mehrheit der Schwelmer Bevölkerung betrachtete ihn jedoch als Edelkommunisten und Sonderling, den man zwar wahrnahm und wirken ließ, der aber keine eigentlich gesellschaftliche Rolle spielte.

In der Nachbarschaft gab es noch einen kleinen Zirkel von Freunden. Hier ist vor allem der bereits kurz erwähnte Walter Kluthe zu nennen, einer seiner ehemaligen Schüler. Er hat später in Hellings Haus, Barmer Straße 76, gewohnt und war neben Hellings Frau Hilda sein engster Mitarbeiter und Freund. Kluthes Familie, Bekannte und Freunde wiederum sowie einzelne Nachbarn bildeten das eigentliche Rückrat von Hellings sozialen Kontakten. Einige von ihnen engagierten sich darüber hinaus auch im „Schwelmer Kreis“, dessen feste und assoziierte Mitglieder wie auch die Mitglieder des einstigen „Bundes Entschiedener Schulreformer“ mit zahlreichen Gästen, Referenten und Sympathisanten zum erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis Fritz Hellings hinzugerechnet werden müssen.

 

Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes nahm Hellings Außenseitertum zu. Die große Mehrheit der Schwelmer Bevölkerung, die vermutlich nicht einmal richtig wußte, was Fritz Helling überhaupt so machte oder worauf seine öffentliche Reputation beruhte, hat ihn und seine Familie sehr geschnitten, manche Zeitzeugen sagen sogar, daß die Hellings regelrecht geächtet wurden. – Wie auch immer, fest steht, daß der Familie insgesamt ziemlich übel mitgespielt worden ist. Vor allem der Sohn Hellings, bis zu seinem Abitur selbst Schüler des Schwelmer Gymnasiums, wurde ernsthaft traumatisiert und hat deshalb eigentlich nie wieder gern etwas mit Schwelm und seinen Bürgern zu tun gehabt. Daß er nach mehrfachen und langwierigen Versuchen der persönlichen Annäherung schließlich Vertrauen zu unserem Tagungs- und Publikationsprojekt faßte und bereit war, uns aktiv zu unterstützen, die Schirmherrschaft unserer Tagung zu übernehmen und gemeinsam mit seiner Familie zwei Tage lang die Vorträge und Diskussionen zu verfolgen, das hat mich vor diesem Hintergrund schon sehr berührt und gefreut.

 

Was kann Fritz Helling für uns heute bedeuten?

Eine Erkenntnis, die man meines Erachtens mit Fug und Recht aus unserer Konferenz ableiten kann, ist die, daß Helling zweifellos ein Vorbild für die heutige Jugend sein könnte, und zwar die Symbolfigur eines engagierten, couragierten und von seinen Idealen überzeugten Menschen, der zeit seines Lebens gezeigt hat, daß es auf eine eigene Identitäts- und Charakterbildung ankommt, die wesentlich durch kulturelle Elemente geprägt ist. Mit Blick auf seine widerständige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus steht hier das Stichwort „Zivilcourage“ obenan. Das Beispiel Helling kann außerdem sehr gut aufzeigen, wie man auf den langen Weg zur Verwirklichung seiner Ziele aus seiner angestammten familiären Position aufbrechen und wie man ursprüngliche räumliche und gesellschaftliche Begrenzungen positiv überwinden kann. Dies ist vor allem für die Jugend wichtig, die lernen muß, mutig einen eigenen Standort zu formulieren und ihren Weg zu gehen.

Außerdem hat Helling gezeigt, wie man mit Menschen zusammenarbeitet, die aus ganz anderen gesellschaftlichen Kreisen kommen. Er besaß den Willen zur Unkonventionalität und auch den Mut zur Lücke, zu einem relativen Dilettantismus, denn anders ist die thematische Breite seiner Verlautbarungen und Publikationen nicht zu erklären, die sich ja immerhin nicht nur mit pädagogischen, sondern auch eingehend mit historisch-politischen, literarischen-sprachlichen und theologischen Problemen beschäftigten.

 

Ihre Arbeit an und für Fritz Helling verrät eine kritische Sympathie für diesen Charakter. Dazu zählt sicher auch die Wahrnehmung von Schwächen der Person?

Ja, offen gesagt habe ich Schwierigkeiten mit seinem politischen Idealismus – den er im ersten Teil seiner Autobiographie mit Blick auf die propagandistische Vereinnahmung der Jugend im Jahre 1914 übrigens selbst noch ausdrücklich kritisiert. Aus meiner Sicht, die sich auch immer um eine hinreichende Berücksichtigung der historisch anders gelagerten Situation bemüht, war Helling auf eine bestimmte Weise weltfremd. Das zeigt sich besonders an seiner offenbar über Jahre und Jahrzehnte hinweg kaum veränderten, geradezu starrsinnigen politischen Haltung. Sie bleibt völlig unbeeindruckt von den allseits bekannten stalinistischen Schauprozessen und Reinigungsaktionen, von den menschenverachtenden Umsiedlungsaktionen und GULags in der Sowjetunion, von der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, vom vergleichbaren Debakel des Ungarnaufstandes 1956 und vom Mauerbau 1961 – und das sogar in der Perspektive der frühen 70er Jahre, aus der heraus Helling seine Autobiographie verfaßte. Von all dem findet man hier kein einziges Wort. Ja, seine Haltung war sogar noch fataler: Er heuerte im Westen noch Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre Wissenschaftler gezielt für die DDR an und akzeptierte 1968 mit Freude und Stolz und ohne jedes Wort des Widerspruchs die Ostberliner Ehrung durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde und die tschechoslowakische Ehrungen durch die Verleihung der Comenius-Medaille. Dabei waren die Auszeichnungen zweifellos von den höheren politischen Kreisen beider Staaten sanktioniert und zur Belobigung eines ‚Sympathisanten‘ sowie aus Gründen der Propaganda und Informationsbeschaffung gefördert worden.

Zeitzeugen berichten zwar, daß er gegenüber der stalinistischen Entwicklung in gewisser Weise reserviert gewesen sei, doch konnte Helling offensichtlich nicht über seinen Schatten springen und von einer Kooperation mit Ostblock-Funktionären und -Wissenschaftlern ablassen. Sie waren es schließlich – im Gegensatz zu den aus seiner Sicht nahezu unbelehrbaren Kollegen des Westens –, die ihn mit staatlichen und halbstaatlichen Mitteln ehrten und hofierten. So war er nach seiner Pensionierung gewiß nicht zu Unrecht stolz auf sein Lebenswerk, aber auch mit jener Unverrückbarkeit ausgestattet, die das Alter so häufig mitzubringen scheint. Zu einer Änderung seines Verhaltens sah er keinen Anlaß, und so hielt er auch seine Kontakte in die DDR weiterhin engagiert aufrecht – freilich zu dem Preis, daß er sich damit in seiner Heimat zugleich selbst zum gesellschaftlichen Außenseiter degradierte. Gewiß entbehrt diese persönliche Komponente nicht einer gewissen Tragik, zumal man Helling auch schon in der Zeit des Kalten Krieges hätte zugute halten können, daß er auf zwischenmenschlicher Ebene in vielfältiger Weise dazu beitrug, daß die Brücken zwischen Ost und West nicht gänzlich abgebrochen wurden. Gleichwohl wäre es meines Erachtens völlig unangemessen, Helling diesbezüglich zum ‚Vorreiter‘ der Wiedervereinigung zu stilisieren. Ich denke, das würde seinen eigentlichen politischen Intentionen nun auch wieder nicht gerecht.

Fritz Helling muß ein sehr guter Pädagoge gewesen sein, der mit jungen Menschen hervorragend umgehen konnte. Aber auf Erwachsene und Menschen eines anderen Bildungsstandes konnte er weniger gut zugehen, das bestätigen etliche Zeitzeugen, die wir im Rahmen unseres Projektes befragt haben. Offensichtlich war er nicht dazu in der Lage, zu solchen Personen und zur Allgemeinheit Brücken zu bauen, um aus seiner gesellschaftlichen Außenseiterrolle herauszukommen. Das hat seine eigene Situation und die seiner Familie sicher nicht einfacher gemacht. Aber natürlich war auch umgekehrt – das muß man uneingeschränkt einräumen – die Fähigkeit zum Gespräch und zur (Wieder-)Annäherung auf Seiten der Gesellschaft gegenüber einem erklärten Linken seinerzeit nicht besonders ausgeprägt. Im Gegenteil: Sie war durch die Barriere vieler Vorurteile verstellt und nahezu unrealisierbar. Insofern war Helling zu einem erheblichen Teil auch Opfer der allgemeinen Ideologisierung der Gesellschaften, die für die Ära des Kalten Krieges insgesamt so symptomatisch war. Aber er hat auch selbst nur wenig gegen die Isolation unternommen, in die ihn seine selbstgewählte Rolle des Grenzgängers zwischen West und Ost und die Rolle des offenen ‚Sympathisanten‘ des Sozialismus getrieben hatte.

 

Ihre Schilderungen lassen den Schluß zu, daß erst jetzt, lange Jahre nach Hellings Tod und einige Zeit nach dem Verschwinden eines politischen Blockdenkens, entspannter über Fritz Helling gesprochen und geforscht werden kann?

Es ist in der Tat der richtige Zeitpunkt. Zwar bin ich während der langen Vorbereitungszeit des Symposions hier und da noch immer auf alte Vorbehalte gestoßen, sogar – das war für mich besonders aufschlußreich – unter ehemaligen Kollegen Hellings vom Schwelmer Gymnasium. Aber die thematische Strukturierung der Tagung mit ihrem ausgesprochen weiten Spektrum und die Auswahl der Referenten ermöglichte es, hier einen unübersehbar sachlichen Ausgleich herzustellen. Es sollte keine Festlegung auf einen bestimmten Schwerpunkt von Hellings breit angelegtem Wirken geben, und vor allem auch keine erneute Mystifizierung oder Heroisierung der Person Fritz Hellings. So haben wir uns betont unverkrampft, aber sachlich, konsequent innovativ und interdisziplinär der weiten geistigen Existenz Fritz Hellings genähert.

 

Wie kann die künftige Auseinandersetzung mit Fritz Helling aussehen?

Wir wollten der Öffentlichkeit mit der Tagung bewußt auch Einblicke in die ‚Werkstätten der Forschung‘ bieten. Daher hatten wir nicht den Anspruch, Endgültiges formulieren zu wollen, wohl aber Gültiges und aus den Quellen Belegbares. Unser Ziel war es also, eine sachliche und solide Zwischenbilanz über Hellings gesamtes Leben und Wirken zu ziehen.

Von jetzt an kann die Forschung auf einer guten Basis aufbauen, zum Beispiel kann vom Helling-Projekt aus künftig viel besser die Sozialgeschichte Schwelms im 20. Jahrhundert – ein ausgesprochenes Desiderat der bisherigen stadtgeschichtlichen Forschung – untersucht werden. Und es ist gewiß gut möglich, aus dem Helling-Projekt noch andere Themen abzuleiten. Zum Beispiel fehlt noch eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte des „Schwelmer Kreises“, die demnächst im Rahmen einer Paderborner Dissertation in Angriff genommen werden wird.

Rückblickend wäre es nicht zuletzt dafür schön gewesen, wenn sich noch mehr wache, in kulturellen und besonders in historisch-politischen Dingen aufgeschlossene Köpfe aus der Stadt Schwelm und nicht zuletzt aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis an dieser einmaligen Konferenz über Helling interessiert gezeigt hätten. Es glänzten nämlich weite Teile der politischen und kulturpolitischen ‚Prominenz‘, interessanterweise aber auch die organisierten Heimatfreunde der Stadt und ihrer Umgebung, durch nahezu geschlossene Abwesenheit. Dafür wiederum haben viele wirklich wichtige und aufgeschlossene Leute von auswärts teilgenommen, Persönlichkeiten, die in den äußerst anregenden Diskussionen unter der Mitwirkung etwa von Prof. Dr. Bernd Faulenbach (Bochum/Recklinghausen) oder Prof. Dr. Bernd-A. Rusinek (Freiburg) wie selbstverständlich in der Lage waren, über den Tellerrand der sonst üblichen historisch-politischen, geographischen und persönlichen Erfahrungshorizonte hinwegzusehen. Zu erwähnen ist hier etwa Prof. em. Dr.-Ing. Werner Albring aus Dresden, ein aus Schwelm stammender Helling-Schüler (geb. 1924), der als Strömungsmechaniker bzw. Aerodynamiker ursprünglich im Umfeld von Wernher von Braun arbeitete und zwischen 1946 und 1952 unter sowjetischer Aufsicht im Internierungslager Gorodomlia zusammen mit anderen deutschen Wissenschaftlern sowie ab 1952 als Lehrstuhlinhaber an der Technischen Hochschule Dresden in der Grundlagenforschung führend an der Entwicklung der sowjetischen Raumfahrt mitwirkte[9].

Den positiven wissenschaftlichen Ergebnissen der Tagung stehen mithin auch einige recht ernüchternde Erfahrungen über den tatsächlichen Stellenwert kultureller Wissens- und Archivbestände in unserer Gesellschaft gegenüber. Zunächst schwand mit der Durchführung der Tagung jegliche Bereitschaft zur weiteren Verfolgung des Themas, etwa in der zuvor aktiven Helling AG oder am Märkischen Gymnasium, wo noch im Herbst 2002 eine auf die Schüler- und Elternschaft fokussierte Veranstaltung zu Helling stattfinden sollte. Davon war anschließend genauso nicht mehr die Rede wie von der Einrichtung eines Helling-Archivs, für das von der Schulleitung zuvor angeblich sogar schon Räume requiriert worden waren. Nach der Tagung wollte von all diesen Plänen plötzlich keiner mehr etwas wissen, und so scheiterte damit auch mein Vorhaben, mit der Gründung einer Helling-Gesellschaft eine angemessene Basis für die Einwerbung von Stiftungsgeldern zum Zweck der weiterführenden Erforschung von Leben und Werk Fritz Hellings ins Leben zu rufen.

Schließlich und endlich ist jedoch als echter Fortschritt zu vermelden, daß uns, wie eingangs bereits einmal kurz erwähnt, nun endlich Fritz Hellings Autobiographie vorliegt. Dafür ist nicht zuletzt Herrn MdL a.D. Leonhard Kuckart, damals noch Vorsitzender des Kulturausschusses im Landtag von Nordrhein-Westfalen, und dem ‚guten Geist‘ seines Düsseldorfer Büros, Frau Savoini-Pohen, zu danken, durch deren Bemühungen um eine Kontaktaufnahme mit Fritz Hellings Sohn erst die Voraussetzungen für die weitere Planung des Projekts erfüllt wurden. Dieses Buch, eine einzigartige Quelle zur Sozialgeschichte Schwelms, zur Geschichte der deutschen Pädagogik im 20. Jahrhundert und zur deutsch-deutschen Geschichte in der Zeit des Kalten Krieges, wird als zweiter Band des Symposions bald auf den Markt kommen. Als erster Band ist ja bereits der Sammelband mit den Tagungsbeiträgen veröffentlicht worden. Beide Bücher zusammen werden dann in der Schriftenreihe „Studien zur Bildungsreform“ im Peter Lang-Verlag, Frankfurt am Main, gewissermaßen als Helling-Doppelpack vorliegen.

 


 

[1] Überarbeitete und erweiterte Fassung des Original-Interviews, das im Herbst 2002 unter dem Titel „Diese weite geistige Existenz – Tagung zu Leben und Werk Fritz Hellings“ erschienen ist in: Journal für Schwelm, H. 78, 2002, S. 14-17.

[2] Radio-Bericht über die Tagung, WDR 5, 12. März 2002, Redakteur: Karl-Heinz Heinemann.

[3] Inzwischen erschienen: Burkhard Dietz (Hg.), Fritz Helling, Aufklärer und „politischer Pädagoge“ im 20. Jahrhundert. Interdisziplinäre Beiträge zur intellektuellen Biographie, Wissenschaftsgeschichte und Pädagogik (Studien zur Bildungsreform, Bd. 43), Frankfurt a.M. (Peter Lang Verlag) 2003, 487 Seiten.

[4] Erschienen im Dezember 2007: Fritz Helling, Mein Leben als politischer Pädagoge, hrsg. v. Burkhard Dietz u. Jost Biermann (Studien zur Bildungsreform, Bd. 44), Frankfurt a.M. (Peter Lang Verlag) 2007.

[5] So Wolfgang Herborn (Hilden), ein einstiger politischer Mitstreiter Fritz Hellings, in dem o.g. Radio-Bericht über die Tagung (s. Anm. 2). Vgl. auch: Karl-Heinz Heinemann, Tagungsbericht „Fritz Helling, ein Aufklärer und politischer Pädagoge“, in: Pädagogik 54 (2002), H. 7-8.

[6] Burkhard Dietz, Sozialistische Orientierung und frühe Opposition gegen den Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.), Fritz Helling (s. Anm. 3), S. 155-167.

[7] Burkhard Dietz, ebd., S. 459-469.

[8] Eine erste Recherche, die Prof. Dr. Wolfgang Keim (Paderborn) beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik initiierte, hat jedoch ergeben, daß vorerst keine Stasi-Akte zur Person Fritz Helling bekannt ist (Schreiben an Prof. Dr. Wolfgang Keim vom 25.3. und 14.4.2004 (Az.: AUII8-006120/03Z8). Freilich kann eine solche Akte auch noch zu einem späteren Zeitpunkt aufgefunden werden, oder es können Hinweise unter anderen Aktenbezeichnungen, etwa im Kontext des „Schwelmer Kreises“ oder anderer Organisationen, subsumiert worden sein. Der durch die allgemeine Praxis des MfS keineswegs unbegründete Verdacht, daß Helling zum Zielobjekt einer Anwerbung als inoffizieller oder gar offizieller Mitarbeiter wurde, dürfte erst durch eingehende weiterführende Recherchen und Aktenstudien zu entkräften oder zu bestätigen sein.

[9] Werner Albring, geb. am 26.9.1924 in Schwelm, ist der Sohn des Studienrats Stefan Albring, der in der Weimarer Zeit von Fritz Helling zu seinen sozialistisch gesinnten Kollegen am Schwelmer Realgymnasium gezählt wurde (Fritz Helling, Mein Leben als politischer Pädagoge, hrsg. v. Burkhard Dietz u. Jost Biermann, Frankfurt a.M. 2004, Kap. 4; Art. Werner Albring, in: Wer war wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch, hrsg. v. Bernd-Rainer Barth u.a., Frankfurt a.M. 1995, S. 20; Werner Albring, Gorodomlia. Deutsche Raketenforscher in Rußland, hrsg. v. Hermann Vincke, Hamburg 1991).

 

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