Tagungsbericht aus: Pädagogik 54 (2002), H. 7-8
Fritz Helling, ein
Aufklärer und politischer Pädagoge
1968 stellte das Märkische Gymnasium in Schwelm
seinem ehemaligen Schulleiter Fritz Helling nicht einmal einen Raum für
die Feier zum achtzigsten Geburtstag zur Verfügung, als ihm Abgesandte der
Berliner Humboldt-Universität die Ehrendoktorwürde verleihen wollten. Im
Osten wurde er verehrt, die Tschechoslowakei verlieh ihm einen hohen
Orden, doch in seiner westfälischen Heimatstadt Schwelm galt er als
Kommunist. Erst heute, gut zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch des
Realsozialismus, fanden sich auf Initiative des Schwelmer Historikers
Burkhard Dietz Historiker und Pädagogen, Bürger und Bürgermeister
zusammen, um sich an den Aufklärer und politischen Pädagogen zu erinnern –
und immer noch ist er in seiner Heimat umstritten. Die alten Gräben sind
immer noch offen, stellte Burkhard Dietz fest. „Muss das sein, dass man
sich mit Helling befasst?“ wurde er gefragt, denn: „Das ist doch klar, das
ist ein Kommunist gewesen.“
Ein unangepasster Pädagoge
Ob es sein muss oder nicht, es lohnt sich jedenfalls,
sich mit der Biografie eines bemerkenswerten Reformpädagogen zu befassen,
der in der Adenauer-Ära der Bundesrepublik im Unterschied zu den meisten
anderen Schulreformern sich nicht anpasste oder ganz aus der Politik
zurückzog, sondern zu einem vehementen Vertreter einer politischen
Pädagogik und einer Politik der deutsch-deutschen Verständigung wurde.
Dieser Meinung waren die gut 20 Referenten, von der Stadtarchivarin, über
Altphilologen, Theologen, Lehrer bis zu den Pädagogen Wolfgang Keim und
Wolfgang Schaller und den Historikern Bernd Faulenbach und Bernd-A.
Rusinek.
Der Lehrersohn Helling zog als Mitglied der
bündischen Jugend begeistert in den Ersten Weltkrieg, kam verletzt zurück
und begann als Lehrer in Schwelm. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs
engagiert er sich als Schulreformer, im Kleinen wie im Großen: Schüler
erinnern sich an ihn als charismatischen Pädagogen, der sich für
Schülermitbestimmung ebenso einsetzte wie er mit den Kindern und
Jugendlichen am Wochenende auf Fahrt ging. Zugleich ist er in Paul
Oestreichs Bund Entschiedener Schulreformer aktiv – für einen lebensnahen
Unterricht, Selbstständigkeit der Schüler, eine gemeinsame Schule für
alle. Im „Kulturpolitischen Zeitspiegel“, einer kleinen Zeitschrift, die
er herausgibt, analysiert er ungewöhnlich klar die Gefahr des drohenden
Faschismus, als sich viele seiner pädagogischen Freunde noch von der
völkischen Gemeinschaftsideologie der Nazis einlullen ließen. 1933 bekommt
er sofort Berufsverbot, doch ein ehemaliger Schüler, der mittlerweile
hoher Nazifunktionär ist, verhilft ihm zur Entlassung aus der
Gestapo-Haft.
1945 holt ihn die britische Besatzungsmacht aus dem
hessischen Dorf, in das er sich geflüchtet hatte und beauftragt ihn mit
dem Neuaufbau der Schwelmer Gymnasien. Er lehnt das Angebot ab, als
Abteilungsleiter unter der christdemokratischen Kultusministerin Christine
Teusch für alle nordrhein-westfälischen Gymnasien verantwortlich zu
werden. In Schwelm kann er viele Reformideen umsetzen: Die Schulgemeinde,
die sich um den materiellen Aufbau und die Heizung ebenso kümmert wie um
die Beteiligung von außerschulischen Fachleuten am Unterricht, die
Einführung eines Kurssystems mit Wahlfreiheit und Arbeitsgemeinschaften
für das selbstständige Arbeiten der Schülerinnen und Schüler. Jürgen
Sprave, der heute als Leiter des Märkischen Gymnasiums Hellings Nachfolger
ist, will mit dem Programm seiner Schule an der Hellingschen Reformarbeit
von 1945 bis 1951 anknüpfen.
1947 veröffentlicht Helling eine der wenigen frühen
Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus unter dem Titel „Der
Katastrophenweg der deutschen Geschichte“. Darin kommt er zu dem Schluss:
Die Arbeiterbewegung müsse sich vereinen, ein demokratischer Sozialismus
stünde auf der Tagesordnung und ein vereintes Deutschland müsse eine
Mittlerrolle zwischen Ost und West einnehmen. Dafür wird er aktiv, er
trifft sich mit gleichgesinnten Pädagogen aus Ost und West, viele von
ihnen waren in der Weimarer Zeit „Entschiedene Schulreformer“. 1950 wird
es Beamten durch den sogenannten Adenauer-Erlass verboten, Mitglied in
Organisationen zu sein, die die Bundesregierung als KPD- und
DDR-freundlich einstuft. Als Mitglied des Demokratischen Kulturbunds ist
auch Helling davon betroffen, verbittert über die erneut drohende
Entlassung lässt er sich aus Gesundheitsgründen pensionieren – und gründet
den Schwelmer Kreis, eine lose Vereinigung von Pädagogen, die sich für
Ost-West-Verständigung einsetzen. Schon die Gründung wird vom
Verfassungsschutz verfolgt und behindert. So nehmen Helling und seine
Freunde die Einladungen ihrer DDR-Kollegen nach Eisenach dankbar an. In
den fünfziger Jahren werden sie von der DDR hofiert, im Westen aber
behindert und isoliert. An den Ostertreffen in der DDR nehmen regelmäßig
500 bis 700 Pädagogen teil.
Im Nachbarort Schwelms, in Wuppertal, wird zur
gleichen Zeit von Gustav Heinemann und seinem Schüler Johannes Rau die
Gesamtdeutsche Volkspartei gegründet, mit einem in Vielem ähnlichen
Programm, doch ohne die Affinität zur Staatspartei der DDR. Auch sie
bekämpfen leidenschaftlich den Kalten Krieg und treten für die
Wiedervereinigung ein. Warum schloss sich Helling nicht dieser Bewegung
an, fragte der Bochumer Historiker Bernd Faulenbach. Dann wäre seine
Wirksamkeit doch größer gewesen. Seine Vermutung: Rau und Heinemann waren
ihm, dem Atheisten, zu protestantisch.
Kritik an der Reformpädagogik
Helling kritisiert in seinen Aufsätzen die
reformpädagogische Beschränkung auf das Verhältnis zum Kind –
Veränderungen, auch in der Erziehung, müssten politisch bewirkt werden. Er
beschäftigt sich intensiv mit Comenius und kritisiert die Pädagogik „vom
Kinde aus“, die den wissenschaftlichen Bezug zur Welt vernachlässige.
In den sechziger Jahren, nachdem die DDR den Gedanken
der Wiedervereinigung abgeschrieben hatte, konzentriert sich auch der
Schwelmer Kreis stärker auf die bundesdeutschen Schulreformfragen. 1973
stirbt Helling, die von ihm herausgegebene Zeitschrift „Schule und Nation“
wird eingestellt, ihr Erbe tritt die Zeitschrift „Demokratische Erziehung“
an.
Helling war nicht nur Pädagoge und Politiker, er
forschte über Comenius und die deutsche Geschichte, die Frühgeschichte des
jüdischen Volkes, schrieb eine kleine deutsche Literaturgeschichte und
betätigte sich als Altphilologe – alle Facetten kamen auf der Schwelmer
Tagung zur Sprache und offenbarten auch manche – bei diesem breiten Ouevre
unvermeidlichen – Untiefen, die in der bisher nur spärlichen
Helling-Aufarbeitung übersehen wurden.
Lange Zeit bleibt Helling nur den wenigen bekannt,
die sich bewusst in die politische Tradition des Schwelmer Kreises
stellen. 1988 erscheint eine Auswahl seiner Schriften, und eine von
Gewerkschaftern organisierte Tagung 1989 in Schwelm führt zwar einige
seiner alten Freunde aus der DDR über die geöffnete Grenze, doch die
Schwelmer Öffentlichkeit tut sich schwer mit dem nach wie vor anrüchigen
Bürger.
Erst heute, fast 30 Jahre nach Hellings Tod und zwölf
Jahre nach dem Ende der DDR nimmt man in Schwelm Helling wieder öffentlich
wahr. Viele ehemalige Schüler erinnern sich noch an ihn als charismatische
Lehrerpersönlichkeit. Von seinen politischen Mitstreitern sind nur wenige
erschienen. Einer von ihnen, Klaus Herborn, äußert sich unzufrieden über
die historisierende Aufarbeitung des Hellingschen Erbes: „Helling sollen
die Zähne gezogen werden. Er wird dargestellt als Freund der Jugend mit
großem pädagogischen Engagement, aber sein politisches Engagement kommt zu
kurz.“
Nun möchte der Organisator der Tagung, Burkhard
Dietz, in Schwelm ein Helling-Archiv einrichten und eine
Helling-Gesellschaft gründen. Für den Schwelmer Schulleiter Jürgen Sprave
dagegen bleibt die Beschäftigung mit Helling ein „heißes Eisen, das ganz
vorsichtig angefasst sein will“.
Karl-Heinz Heinemann
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