Mein Leben als politischer Pädagoge
WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU, 28.12.2007
Spät erscheint sie. Aber
von ihrer Eindringlichkeit und Plastizität als Dokument hat sie nichts
verloren. Denn kaum ein Leben ist so ereignisreich, schillernd und
vielleicht auch bedeutend gewesen wie das des Schwelmer Reformpädagogen
Fritz Helling (1888-1973). Seine Autobiographie wurde jetzt, mehr als 30
Jahre nach seinem Tod, in einer ausführlich kommentierten Ausgabe
veröffentlicht.
"Genau, sachlich und in allen Details
wahrheitsgetreu", sagt der in Schwelm lebende Historiker Dr. Burkhard
Dietz (Universität Düsseldorf) über die Autobiographie. Dietz hatte sich
schon 2002 um eine Fachtagung über Helling und sein Werk auf Schwelmer
Boden verdient gemacht, die - genauso wie das jetzt vorgelegte Buch -
finanziell von der Wilhelm Erfurt Stiftung für Kultur und Umwelt (Schwelm)
gefördert wurde. Seither war es Dietz als Initiator des gesamten
Helling-Projekts ein Anliegen, die Selbstbeschreibung von Hellings Leben
zu veröffentlichen. Ein langer und beschwerlicher Weg, wie sich zeigen
sollte.
Das Buch schildert eingehend den Weg des in Schwelm geborenen und
aufgewachsenen Lehrersohnes Fritz Helling vom kaiserlichen Deutschland
über den Ersten Weltkrieg zur Weimarer Republik, eine Zeit, in der er
seine sozialistische "Erleuchtung" erlebte, am Schwelmer Gymnasium zu
unterrichten begann und in der Jugendbewegung sowie im Bund Entschiedener
Schulreformer, einer sozialistischen Vereinigung von Pädagogen, aktiv
wurde. Ferner wird sein Leben und Wirken während der NS-Zeit beschrieben,
seine Gestapo-Haft und seine wundersam erscheinende Freilassung aus den
Fängen der Nazi-Schergen, seine Arbeit und sein Überleben als bekannter
Gegner des NS-Regimes im ländlichen Exil Hessens und seine Rückkehr an das
Märkische Gymnasium in Schwelm, wo er bis zum Beginn der 50er Jahre als
Schuldirektor wirkte, für damalige Verhältnisse sehr fortschrittliche
Reformen durchführte und als Gründer des sogenannten "Schwelmer Kreises"
von Pädagogen aus Ost und West sowie als Publizist hervortrat.
Das Manuskript, im Original als Unikat und vielfach ergänzte
Maschinenschrift in Fritz Hellings Nachlass überliefert, hatte Dietz schon
1998 von dem in der Zwischenzeit verstorbenen Sohn Hellings, Prof.
Dr.-Ing. Jürgen Helling (1928-2003), erhalten. Nachdem von ihr eine
EDV-Datei erstellt worden war, begann Dietz 1999 mit den
Kommentierungsarbeiten, für die er nach dem Tod von Prof. Jürgen Helling
den Paderborner Pädagogen Jost Biermann als zweiten Bearbeiter hinzu
gewann. Die insgesamt fast 10 Jahre währende Bearbeitungszeit hat sich in
einer geradezu vorbildhaften textkritischen Kommentierung
niedergeschlagen, die größten Wert auf Benutzerfreundlichkeit legt und
alle Details wie unbekannte Personen, Orte und Ereignisse in Fußnoten
erläutert.
"In Stilistik und Aufbau ist der Duktus des Altphilologen im Text
erkennbar", bewertet Herausgeber und Bearbeiter Dietz das einzigartige
Manuskript Hellings. Was ihn als Historiker und Germanisten besonders
herausforderte, waren die zahllosen Recherchen zu den Hintergründen im
Leben und Wirken Hellings, dessen Aufzeichnungen ihm trotz aller
Detailgenauigkeit insgesamt vielfach zu glatt, zu unkritisch und auch zu
beschönigend erscheinen. "Vieles", so Dietz in einer abschließenden
Beurteilung, "wird ausgeblendet oder zu geradlinig dargestellt, weil es
offenbar nicht in die rückwärtsgewandte Selbstinszenierung des politischen
Pädagogen Fritz Helling hineinpasste. So ist Hellings vermeintliche
Wahrhaftigkeit immer auch eine Wahrhaftigkeit der zwei Gesichter. Seine
Pädagogik, so fortschrittlich sie uns heute auch erscheinen mag, diente
letztlich immer nur einem Ziel: der Erziehung zum Sozialismus."
An Weltanschauung festgehalten
Wie die jetzt vorgelegte Autobiographie
zeige, wollte Helling bis zu seinem Lebensende von den seinerzeit bereits
gut bekannten, sehr inhumanen Rahmenbedingungen des `Real existierenden
Sozialismus' nicht viel wissen und hielt mit blindem Idealismus
unverrückbar an seiner überkommenen Weltanschauung fest. So erschien es
ihm auch nicht despektierlich, Ehrungen aus der Tschechoslowakei und DDR
entgegenzunehmen, die dort mit höchsten Partei- und Geheimdienststellen
koordiniert wurden.
Seit Mitte Dezember liegt die kommentierte und ausführlich von Dietz und
Biermann eingeleitete Autobiographie Fritz Hellings vor und ist über den
Buchhandel beim Peter Lang Verlag (Frankfurt a.M.) als 44. Band der
Schriftenreihe "Studien zur Bildungsreform" beziehbar - übrigens auch als
sinnvolle Ergänzung zu dem 2003 erschienenen Band über die Schwelmer
Helling-Tagung, den Dietz als Herausgeber unter dem Titel "Fritz Helling,
Aufklärer und politischer Pädagoge im 20. Jahrhundert" als 43. Band in
derselben Reihe veröffentlichte.
Mit der jetzt vorgelegten Autobiographie Fritz Hellings ist, auch dank der
Unterstützung der Erfurt Stiftung, ein zehnjähriges Forschungsprojekt zu
einem erfolgreichen Ende gebracht worden, mit dem Dietz die
Helling-Forschung insgesamt auf eine neue und "breite, Biographie und
Lebenswerk einbeziehende Grundlage gestellt" hat.
Zusammen mit dem Tagungsband von 2003 bildet sie eine "unverzichtbare
Grundlage für die zukünftige Helling-Forschung", so Prof. Dr. W. Keim, der
Herausgeber der Schriftenreihe. Sie ist darüber hinaus aber auch eine
wichtige Quelle für die heimische Geschichtsschreibung, mit der laut Dietz
"eine erste breite Schneise in die noch weitgehend unerforschte politische
Kulturgeschichte Schwelms im 20. Jahrhundert geschlagen wird".
Ein Verzeichnis der Schriften Fritz Hellings mit manchen wiederentdeckten
bzw. bisher kaum bekannten Titeln, ausgewählte Fotos und ein
Personenverzeichnis runden das Angebot des informativen Buches ab.
Weiterführende Forschungen
Material für weiterführende Forschungen, so
der Schwelmer Historiker Dietz, böte die Autobiographie Hellings in
vielfältiger Weise, so etwa im Bereich seines NS-Widerstandes, den er im
Rahmen der Kommunistischen Partei-Opposition und seiner
Auslandsaktivitäten in der Schweiz leistete.
Vor allem seien jedoch die naheliegenden Fragen nach seiner Kollaboration
mit den einschlägigen Verfassungsorganen der SBZ bzw. DDR nach 1945 weiter
zu klären, also seine Zusammenarbeit mit den maßgebenden West- und
Propagandaabteilungen der SED, der Stasi und der DDR-Kulturbürokratie.
Denn Helling erhielt 1968 zu seinem 80. Geburtstag, den er nach einem
repräsentativen Part im Schloß Martfeld privat im Schwelmer "Prinz von
Preußen" mit einem Essen im kleinen Kreis ausklingen ließ, überraschend
Besuch von einem offiziellen Reisekader der DDR, der ihm die Urkunde der
Ehrendoktorwürde überreichte, die ihm die Ost-Berliner Humboldt
Universität verlieh. Für den damals allseits um seine Anerkennung und
Reputation ringenden DDR-Staat eine willkommene Gelegenheit, einen Bürger
der Bundesrepublik für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Aber nicht nur der
Historiker fragt hier und an zahlreichen anderen Stellen nach dem Warum
und nach den Hintergründen. Gewiss bietet die Vita Fritz Hellings also
noch weiteres Material für eine kritische Auseinandersetzung mit seinem
Wirken und Schaffen.
Fritz Helling: Mein Leben als politischer Pädagoge, Peter Lang Verlag
2007, Paperback, 42 Seiten Einleitung und 365 Seiten Autobiographie, 19
Abbildungen, ISBN: 978-3-631-53310-9, Preis: 69,50 €
Burkhard Dietz, Dr. phil., Jg. publizierte zahlreiche wissenschaftliche
Studien, studierte Geschichtswissenschaft, Germanistik und Pädagogik und
ist Wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für Neueste Geschichte
und Landesgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Jost
Biermann, studierte Pädagogik, Englisch und Sport und ist
Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Allgemeine und Historische
Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität
Paderborn
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