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Rezension aus: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 65, 2001, S. 493-495

Die deutsche Übersetzung dieser grundlegenden Darstellung war offenbar ein langjähriges Desiderat. Wenn sie 94 Jahre nach der Veröffentlichung der französischen Originalfassung nunmehr am Ende des 20. Jhs. zusammen mit einer Reihe kommentierender Beiträge heutiger Autoren noch erscheint, so muß es sich um ein sehr bemerkenswertes Oeuvre handeln, was in der Tat der Fall ist; denn es schildert in umfassender Weise auf einer sehr fundierten Quellengrundlage die Geschichte dieser 1813 in den Freiheitskriegen wieder untergegangenen Staatsschöpfung. Dem Übersetzer, Lothar Kellermann, gebührt für die nicht leichte Arbeit, dem Originaltext gerecht zu werden, andererseits aber auch manche Passage stilistisch zu „glätten“, zweifellos Anerkennung. Den historischen Hintergrund dieses Werkes beleuchtet eingehend der Beitrag von Burkhard D i e t z. Demnach ergibt sich in dieser Beziehung folgendes Bild: Bei Charles Schmidt (1872-1956), der aus Lothringen stammte und gute deutsche Sprachkenntnisse besaß, handelte es sich um einen sehr profilierten und erfolgreichen Historiker und Archivar, einen Absolventen der Sorbonne und der „Ecole des Chartes“, einer renommierten Ausbildungsstätte für künftige Archivare und Bibliothekare. Geprägt von der Methodologie seines Lehrers Charles Seignobos, der die Erneuerung der französischen Geschichtswissenschaft durch eine Beseitigung der theologischen und dynastischen Elemente vorantrieb, befaßte sich Schmidt auf dieser Grundlage vor allem mit der französischen Geschichte seit 1789 mit Schwerpunkten in der Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte, und er avancierte auf Grund seiner wissenschaftlichen Verdienste zum Archivar in der Abteilung für neuere Geschichte der Nationalarchive in Paris. Schmidts Hinwendung zur Geschichte des Großherzogtums Berg hing anscheinend mit der Zeitströmung zusammen, das durch die Niederlage von 1870 beschädigte Ansehen der „Grande Nation“ mit der Hinwendung zur imperialen Vergangenheit Frankreichs im Zeitalter Napoleons I. wieder zu stärken. Bei seiner Arbeit kam Schmidt zugute, daß die bedeutendsten Dokumente hierfür in Paris aufbewahrt werden. Darüber hinaus griff er auf Quellen in deutschen Archiven zurück (u. a. Staatsarchiv Düsseldorf, Staatsarchiv Münster). Bei diesen Archivreisen ist es durchaus möglich, daß Schmidt in höherem Auftrag gehandelt hat, um für die französische Archivverwaltung wichtige Zeugnisse des nationalen historischen Erbes jenseits des eigenen Hoheitsgebiets zu ermitteln und zu inventarisieren.

Die Darstellung Schmidts beginnt mit einer gewissen Einbettung dieser Staatsgründung in die Ereignisgeschichte. Demnach stand anfänglich das Bestreben im Vordergrund, zwischen Frankreich und Preußen einen Pufferstaat zu errichten, was u. a. seitens Preußens zur Abtretung des Herzogtums Kleve und in der Folgezeit zu einem sich nach und nach weiter ausdehnenden neuen Staat unter Napoleons Schwager Murat führte. Im folgenden Kapitel wird die Verwaltung des Großherzogtums unter Murat (1806-1808) geschildert, der offenbar in Wesel von der Bevölkerung mit Begeisterung empfangen wurde und der zunächst an der Lokalverwaltung des Landes wenig änderte. An der Spitze des Großherzogtums wurde allerdings am 24. April 1806 die Ministerialverwaltung eingeführt, wodurch u. a. der Geheime Rat des früheren Herzogtums Berg überflüssig wurde. Es folgten die Einteilung des Landes in Arrondissements und danach die Reorganisation der städtischen Verwaltung, schließlich auch die Abschaffung der Steuerprivilegien. Nach der Erhebung Murats zum König von Neapel gelangte Berg 1808 unter die unmittelbare Verwaltung Napoleons. Sein Mann vor Ort wurde Jacques Comte de Beugnot (1761-1835), dem nunmehr an vorderster Stelle die Last der Verwaltung und der Umgestaltung des Landes oblag. Schmidt schildert eingehend die Beziehungen zwischen Beugnot und seinem Vorgesetzten in Paris, Ministerialstaatssekretär Pierre Louis Comte de Roederer (1754-1835), sowie die Entwicklung der Landesverfassung, zu der z. B. seit 1812 wieder ein Staatsrat gehörte. Mit dem Militärdienst, einer im Großherzogtum wenig Anklang findenden Einrichtung, befaßt sich Schmidt in einem weiteren Kapitel. Insbesondere Desertionen großen Ausmaßes bildeten damals ein erhebliches Problem. Das von dem kleinen Staat verlangte beträchtliche Kontingent von 9400 Mann war nur schwer aufzubringen, wenn dies überhaupt je gelang. Die Formulierungen Schmidts sind in dieser Hinsicht etwas gewunden. Der Blutzoll der bergischen Truppen in Spanien und Rußland war jedenfalls sehr hoch und gehörte zu den düsteren Seiten der napoleonischen Herrschaft. Zu den positiven Reformmaßnahmen dieser Zeit zählte hingegen die Abschaffung der Leibeigenschaft, von der im folgenden Kapitel die Rede ist. Aber auch sie erwies sich im Detail als sehr schwierig und führte zu heftigen Konflikten zwischen Adel und Bauern. Inwieweit es dem Verfasser gelingt, diese komplizierte Materie mit ihren diversen althergebrachten Rechtsinstituten klarzulegen, sei dahingestellt. Eher ist dies in Bezug auf die Einführung des Code civil und der Gerichtsordnung der Fall. In diesem Bereich ließen sich anscheinend die Reformen umsetzen. Hingegen gelang es auf dem Gebiet von Kirche und Schule wohl weniger, neue Akzente zu setzen, abgesehen vom Armenwesen, das „säkularisiert“ wurde. Eingehend befaßt sich Schmidt in weiteren Kapiteln mit Wirtschaft und Finanzen. Diesen Bereichen, die dem Verfasser auf Grund seiner Forschungsausrichtung besonders lagen, kam nach Schmidt eine Schlüsselrolle zu; denn von dem Gedeihen der Wirtschaft und damit der Finanzkraft des Landes hingen die Zufriedenheit der Bevölkerung und ihre Zustimmung zum neuen Staat ab. Die Quintessenz der ausführlichen und detailreichen Ausführungen Schmidts, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann, läuft darauf hinaus, daß bereits die Einführung der Salz- und Tabaksteuer zu einer Belastung der Bevölkerung und zu einer weitverbreiteten Unzufriedenheit führte. Ferner traf die rigorose Abschottung des in hohem Maße protektionistisch ausgerichteten Frankreich (mitsamt Italien) von englischen und auch von bergischen Waren die bergische Wirtschaft schwer, obwohl sie sich, nach der Meinung Schmidts nicht ganz erfolglos, um neue Märkte bemühte. In Bittschriften mit Tausenden von Unterschriften forderte man daher in Berg den Anschluß an Frankreich, letztlich jedoch vergeblich, was zu einer gewissen industriellen Emigration auf das linke Rheinufer führte. In Berg nahm die Arbeitslosigkeit dramatisch zu; nach der Darlegung Roederers brachte die Verminderung des aktiven Handels im Lande um ein Drittel die Hälfte seiner Arbeiter „an den Bettelstab“. Als dann noch eine erneute Konskription hinzutrat, kam es im Januar 1813 in Berg zu einem Arbeiteraufstand, der allerdings schnell und streng niedergeschlagen wurde. Der tiefere Grund war eindeutig die „schlimme“ Lage der Wirtschaft. Die der Protektion ihrer Wirtschaft im Kernland den Vorzug gebende napoleonische Herrschaft hatte somit ihre anfängliche Akzeptanz weitgehend eingebüßt, zumal ein napoleonisches Dekret noch in dieser gespannten Situation weitere Zollverschärfungen und Beschlagnahmungen von Kolonialwaren befahl, wodurch der gesamten Arbeiterbevölkerung völlige Arbeitslosigkeit drohte. Die heranziehenden Kosaken und Preußen wurden daher verständlicherweise sehnlich erwartet. Der an sich national eingestellte Schmidt sieht also in dieser Beziehung die napoleonische Politik durchaus kritisch und zeigt sich in diesem Werk bemüht, den „Stellenwert der antimonarchischen und republikanischen Traditionen von 1789 für das nach seiner Identität suchende moderne Frankreich zu betonen“ (Dietz).

Im Anhang des Buches findet sich eine Reihe von Dokumenten, z. B. über das Zollwesen des Rheinbundes oder den Tarif von Trianon vom 5. August 1810. Wer sich nach der umfangreichen und detailreichen Lektüre des Werkes von Schmidt noch weiter über die abgehandelte Materie informieren möchte, kann sich in die anschließenden Kapitel von Jörg Engelbrecht über „Probleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Großherzogtums Berg“ und von Heinz-K. Junk über „Verwaltung und Verwalter des Großherzogtums Berg“ vertiefen. Am Schluß des Bandes findet sich noch eine „Bibliographie zur Geschichte des Rheinbundes und des Großherzogtums Berg“ (Eine Auswahl der seit 1905 erschienenen Forschungsliteratur).

Alles in allem ist diese Publikation so untermauert, daß keiner, der sich mit der Geschichte der napoleonischen Zeit in der rheinisch-westfälischen Region befassen möchte, um dieses grundlegende und überzeugende Werk umhin kommt.

Friedrich Keinemann, Norden

 

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