Aktuelles

Schriftenverzeichnis

Rezensionen

Biographisches

Kontakt

Startseite

 

zurück

 

 

Rezension aus: Francia 29/2, 2002, S. 312-313

Bis heute ist in der Geschichtswissenschaft die Auseinandersetzung über die Umwälzungen, die unter napoleonischer Herrschaft auf deutschem Boden stattfanden, nicht zum Abschluß gekommen. Ein Grund dafür ist der ambivalente Charakter der in dieser Zeit initiierten Reformen. Die Tatsache, daß die Neuerungen für die deutschen Staaten fortschrittliche Wirkungen besaßen, aber hauptsächlich im Dienst französischer Herrschaftsinteressen standen, wird von Historikern nach wie vor unterschiedlich bewertet. Die einen halten die modernisierende Kraft der Reformen für bedeutsamer als ihre Grenzen. Die anderen ziehen für die Umbruchzeit eine weniger positive Bilanz. Ihrer Meinung nach waren die gegenläufigen Entwicklungen im Reformprozeß so stark, daß das Modernisierungsparadigma als Deutungsmuster für die Reformzeit nur bedingt herangezogen werden darf. Christof Dipper ging sogar so weit, das Fortschrittsmodell für einige Sektoren ganz in Frage zu stellen. „Die Modernisierung [ ... ]“, schrieb er Mitte der 1990er Jahre und bezog sich dabei auf die in französischer Zeit durchgeführten Veränderungen in Militär, Verwaltung und Justiz, „diente [ ... ] vor allem der Durchsetzung des napoleonischen Hegemonieanspruchs, sie ist nicht zu verstehen als Ausschnitt eines größeren Prozesses beabsichtigten sozialen Wandels“1.

Daß die Debatte über Ausmaß und Bedeutung der Rheinbundreformen andauert, hängt aber nicht allein mit der strittigen Frage der Modernisierung zusammen. Dafür ist auch die unvollständige Erforschung dieser Epoche verantwortlich. Obwohl infolge der Aufwertung der Rheinbundreformen in den 1960er Jahren zahlreiche Arbeiten zu diesem Thema erschienen sind, ist der wissenschaftliche Kenntnisstand darüber immer noch lückenhaft. Einzelne Reformbereiche, wie etwa das Schul- und Armenwesen, sind noch immer nicht hinlänglich untersucht worden. Ebensowenig aufgearbeitet ist die Geschichte bestimmter Regionen.

Das im März 1806 auf dem Gebiet der Herzogtümer Kleve und Berg von Napoleon geschaffene und in den Folgejahren namentlich um ehemals nassau-oranische und preußische Besitztümer vergrößerte Großherzogtum Berg gehört zu jenen Gebieten, die von Historikern bislang eher vernachlässigt wurden. Zwar liegen mehrere jüngere Einzelstudien zu Teilbereichen der großherzoglich-bergischen Geschichte vor. Zu nennen sind hier einmal Untersuchungen aus dem Bereich der Rechtsgeschichte, wie zum Beispiel die Arbeit Meent Francksens zur Rolle des Düsseldorfer Staatsrates in napoleonischer Zeit. Erwähnenswert sind des weiteren Beiträge, die sich mit Aspekten der Verwaltungs- und Territorialgeschichte befassen, allen voran die Studien Heinz-K. Junks zur territorialen Entwicklung des Großherzogtums im Verlauf seiner siebenjährigen Existenz. Hervorzuheben sind schließlich vereinzelte Darstellungen zur Sozialgeschichte. Mahmoud Kandil etwa beschäftigte sich mit dem Protestverhalten der bergischen Bevölkerung aus Sicht der Verwaltungsbehörden. Außerdem ist die Untersuchung der Geschichte des Großherzogtums in den vergangenen Jahren durch zwei Veröffentlichungen erheblich erleichtert und attraktiver gemacht worden. Bei diesen Arbeiten handelt es sich zum einen um die von Jeannine Charon-Bordas minutiös ausgearbeitete Bestandsaufnahme der für Berg in Frankreich lagernden Archivbestände und zum anderen um die von Klaus Rob Anfang der 1990er Jahre erschienene Quellensammlung mit ausgewählten Dokumenten zur französischen Reformpolitik in Düsseldorf.

Wer sich für die Geschichte des Großherzogtums Berg interessiert, ist aber nach wie vor auf die aus dem Jahre 1905 stammende Monographie des Pariser Archivars Charles Schmidt angewiesen. Schmidt ist bis heute der einzige Historiker, der die französische Herrschaft in Düsseldorf zu Beginn des 19. Jhs. umfassend untersucht und dargestellt hat. Den Schwerpunkt legt er dabei auf die Schilderung der Direktherrschaft Napoleons von 1808 bis 1813. Sie umfaßt mehr als zwei Drittel der Arbeit. Die zweijährige Regierungszeit des Prinzen Murat wird dagegen auf nur knapp 50 Seiten nachgezeichnet.

So unersetzlich die Arbeit für die Geschichte des Großherzogtums Berg bis heute geblieben ist, so wenig wird sie den Ansprüchen moderner Geschichtswissenschaft gerecht. Wenn sie auch an manchen Stellen durchaus als zukunftsweisend zu bezeichnen ist – das gilt für die Berücksichtigung französischer und deutscher Quellen ebenso wie für die starke Betonung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme –, entspricht sie insgesamt doch dem Stand der Historiographie zu Beginn des 20. Jhs. In methodischer Hinsicht etwa ist das Werk ganz und gar dem Positivismus verpflichtet. Charakteristisch dafür ist die stark chronologisch gegliederte und faktengesättigte Darstellungsform sowie das häufige, bisweilen seitenlange Zitieren der Quellen. Außerdem wurzelt die Fragestellung in nationalpolitischen Denkmustern der damaligen Geschichtsschreibung. Der Untertitel der Darstellung „Eine Studie zur Vorherrschaft in Deutschland unter Napoleon I.“ läßt keinen Zweifel daran, daß Schmidt seine Arbeit aus französischer Perspektive schrieb.

Ungeachtet dieser aus heutiger Sicht bestehenden Defizite ist es erfreulich, daß das Werk des französischen Historikers, das bis vor kurzem nur in französischer Sprache erhältlich war, endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Mit der ins Deutsche übertragenen Fassung der Schmidtschen Arbeit wird ein wertvolles historiographisches Dokument erstmals einem größerem Leserkreis zugänglich gemacht, vor allem aber wird damit ein wichtiger Anstoß zur weiteren Erforschung der Rheinbundreformen gegeben. Zahlreiche Zusatzinformationen im Anhang der Edition leisten dabei Hilfestellung. Ein umfangreicher bibliographischer Apparat bietet einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand. Bis auf wenige Ausnahmen – nicht genannt wird etwa die Studie Winfried Speitkamps zu den Protesten im napoleonischen Deutschland – enthält sie alle für die Geschichte des Großherzogtums Berg einschlägigen Werke. Drei Aufsätze ermöglichen dem Leser des weiteren ein besseres Verständnis der Darstellung Schmidts. Burkhard Dietz liefert Informationen zu ihrer Genese und Rezeption. Heinz-K. Junk und Jörg Engelbrecht erlauben Einblicke in neuere Erkenntnisse über die Geschichte des Großherzogtums Berg. Heinz-K. Junk bietet dabei aktuelle Ergebnisse zur Verwaltungsreform und zu den Reformträgern. Jörg Engelbrecht skizziert demgegenüber Entwicklungslinien im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich. Von großem Nutzen für die Lektüre ist schließlich das umfangreiche Orts-, Personen- und Sachregister.

Bettina Severin-Barboutie, Strasbourg

1 Christof Dipper, Einleitung, in: Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien - Verwaltung und Justiz, hg. von Christof Dipper, Wolfgang Schieder, Reiner Schulze, Berlin 1995, S. 24.

 

Startseite

zurück

nach oben

Impressum | Datenschutz